Dunkle Sinfonien zerren an den Nerven
London Philharmonic Orchestra in der Glocke – Schlusskonzert mit Christian Tetzlaff
BREMEN – Wer schon einmal den Wiener Zentralfriedhof betreten hat, kennt ihn: den morbiden Charme – die Konfrontation mit dem Tod vereint mit tröstlicher Anmut. Kaum anders lässt sich das Programm beschreiben, das das Musikfest Bremen jetzt zum Abschlusskonzert im Großen Saal der Bremer Glocke bot. „Dem Andenken eines Engels“, Alban Bergs Konzert für Violine und Orchester, war Inspiration und Höhepunkt des Abends zugleich.
Eine wirklich ergreifende Interpretation des Werks lieferte Violinist Christian Tetzlaff mit dem London Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Vladimir Jurowski. Das musikalische Andenken gilt der 18-jährig verstorbenen Manon Gropius, Tochter von Alma Mahler-Werfel und Walter Gropius. Deren musikalische Charakterskizze strotzt vor Expressivität und Fragilität. Beides kostete Tetzlaff aus. Lyrischer Innigkeit setzt er Exzentrik gegenüber, ohne das Kantige zu scheuen.
Nicht weniger Vanitas als bei Berg, dem Klangsinnlichen,
dem „Romantiker“der Zweiten Wiener Schule, findet man im russischen Teil des Programms. Da wäre zunächst noch Igor Strawinskys Grablied für seinen verstorbenen Lehrer Nikolai RimskyKorsakow: „Pogrebal’naya Pesnya“. Erst vor zwei Jahren wurde die über 100 Jahre als verschollen geglaubte Komposition inmitten alter Manuskripte im St. Petersburger Konservatorium wiederentdeckt. Kaum weniger als Berg fordert Strawinsky den Hörer, zerrt an den Nerven mit einer flirrenden Spannung, die das Werk ebenso durchzieht wie die von elegischen Solostimmen geschmückte Schwärze.
Viel Dunkelheit ist ebenso in Dimitri Schostakowitsch’ Sinfonie Nr. 11 zu spüren. Sein „Das Jahr 1905“betiteltes musikalisches Denkmal ziert ein Massengrab. Entstanden 1957 erinnert das Werk an den „Petersburger Blutsonntag“.
Mit realistisch anmutenden Versatzstücken – Märschen, unheilvoller Ruhe, Waffengewalt – bringt der Komponist das Massaker an friedlichen Demonstranten im vorrevolutionären St. Petersburg nahe. Das London Philharmonic Orchestra beeindruckt mit Klangintensität, zuweilen mit Klanggewalt, bleibt dabei aber immer noch dem Schönen, Anmutigen verhaftet, das den morbiden Charme auch ausmacht, aber eben nicht allein.