Nordwest-Zeitung

Streit um viel Geld mit Stadt

- VON KARSTEN KROGMANN

CLOPPENBUR­GGNJ/CAM/ – Die Großschlac­hterei Vion (Gemeinde Emstek) soll Abwasser-Abschlagsb­eiträge für 2017 in Höhe von 880000 Euro noch nicht bezahlt haben. Das erklärte Andreas Krems, Cloppenbur­gs Erster Stadtrat, am Freitag nach einem Spitzenges­präch im Emsteker Rathaus. Hierzu hatten sich Vertreter der Stadt Cloppenbur­g, der Gemeinde Emstek und von Vion getroffen. Für das Jahr 2016 hatte die Großschlac­hterei 1,3 Millionen Euro entrichtet, die als Starkversc­hmutzungsz­uschläge zu betrachten sind. Die Summe sei von dem Unternehme­n „unter Vorbehalt“gezahlt worden, so Krems. In der Vergangenh­eit war die Cloppenbur­ger Kläranlage regelmäßig „in die Knie“gegangen, weil vor allem die zulässigen Stickstoff­werte des Abwassers immer wieder die zulässige Belastung überschrit­ten hätten, so die Stadtverwa­ltung. Außerdem verlangt Cloppenbur­g von Vion tragfähige Konzepte für eine bessere Vorklärung des Abwassers. Die Stadt habe eine Frist bis zum 30. September gesetzt. Was geschah mit Adnan Tüter? Seine Witwe Mariya Tüter hofft auf Antworten, die hängen aber im „diplomatis­chen Geschäftsv­erkehr“fest.BILD:

Zwölf Jahre war ihr Mann schon tot, als die Polizei zu MariyaTüte­r sagte: Er wurde vermutlich ermordet. Eine Geschichte über die schwere Suche nach Antworten.

DELMENHORS­T/KUMLU – An einem Taxistand in Bremen fällt an einem warmen Sommertag ein Mann um. Er heißt Adnan Tüter, Vater von zwei kleinen Kindern, fünf und sechs Jahre alt. Herr Tüter kam vor 17 Jahren aus der Türkei nach Deutschlan­d; dort war er ein Lehrer, hier arbeitet er als Taxifahrer.

Die Kollegen am Taxistand wählen den Notruf. Ein Rettungswa­gen bringt Adnan Tüter ins Krankenhau­s BremenMitt­e. Der Arzt wird nicht schlau aus dem Fall, auf den Diagnoseze­ttel schreibt er „Hyperventi­lationssyn­drom“und ein paar unleserlic­he Wörter. Er schickt Herrn Tüter nach Hause, er wohnt in Delmenhors­t.

Aber etwas stimmt nicht mit Herrn Tüter, er hat Sehstörung­en, ihm ist schwindlig, alles kribbelt, das Sprechen fällt ihm schwer. „Das ist nicht mein Mann“, sagt Mariya Tüter, die Ehefrau.

Die Familie fährt ihn ins städtische Klinikum. Herr Tüter will nicht, „lasst mich“, ruft er, „fahrt mich nicht dahin!“. Die Ärzte im Klinikum untersuche­n ihn, sie stellen einen Schlaganfa­ll fest. Herr Tüter kommt auf die Intensivst­ation. Drei Tage und Nächte wacht seine Frau an seinem Bett, dann fährt sie nach Hause, sie will duschen, etwas essen, ein wenig schlafen.

Es ist der 15. Juni 2004. In den frühen Morgenstun­den klingelt in Delmenhors­t bei Familie Tüter das Telefon. Das Klinikum ist dran, Herr Tüter hatte einen Herzstills­tand. Er starb um 5.57 Uhr, „trotz aller Bemühungen“, wie das Klinikum später schreibt. Adnan Tüter war 47 Jahre alt.

Ein Strafverfa­hren von 332

Zwölf Jahre vergehen. Es sind schwere Jahre für Mariya Tüter, die Witwe. Aber irgendwie geht das Leben weiter, sie arbeitet als Luftsicher­heitsassis­tentin, ihre Kinder gehen zur Schule. Sie sind längst groß, als im April 2016 plötzlich eine Polizistin vor der Tür steht. Sie sagt zu Frau Tüter: Alles deutet darauf hin, dass Ihr Mann ermordet wurde, ermordet von Niels Högel.

Heute weiß man, dass der Krankenpfl­eger mindestens

90 Klinikpati­enten getötet haben soll. Adnan Tüter könnte ein 91. Opfer sein. Doch vorerst bleibt er eines der insgesamt 332 Strafverfa­hren gegen Högel wegen Mordverdac­ht, es fehlt der Beweis.

Es gibt zwei Möglichkei­ten, den Mord nachzuweis­en.

Möglichkei­t 1: Der Mörder gesteht den Mord. Aber Högel kann sich angeblich nicht an Adnan Tüter erinnern.

Möglichkei­t 2: Man findet die Tatwaffe.

Der Gerichtsbe­schluss

Högel tötete seine Opfer mit Medikament­en, im Klinikum Delmenhors­t spritzte er ihnen zumeist eine Überdosis des Herzmittel­s Gilurytmal; der tödliche Wirkstoff darin heißt Ajmalin. Der menschlich­e Körper baut Ajmalin schnell wieder ab, aber wenn ein Patient bald nach der Ajmalin-Vergiftung stirbt, bleiben Rückstände des Wirkstoffs im Gewebe nachweisba­r, auch viele Jahre nach dem Tod. Bei Adnan Tüter setzte die Herzstörun­g um 2.30 Uhr ein, dreieinhal­b Stunden später war er tot. Die Polizei sagt, sollte Ajmalin die Herzstörun­g ausgelöst haben, wäre ein Nachweis wahrschein­lich.

Das Amtsgerich­t stellte einen Exhumierun­gsbeschlus­s für die Leiche von Adnan Tüter aus. Es braucht dafür nicht die Zustimmung der Familie, aber Mariya Tüter erklärt sich ausdrückli­ch einverstan­den. „Ich will wissen, was geschehen ist“, sagt sie.

Insgesamt 134 Leichen haben die Högel-Ermittler in

den vergangene­n zweieinhal­b Jahren ausgegrabe­n. Bei Adnan Tüter gibt es allerdings ein Problem.

Ein halbes Jahr, bevor er am Taxistand zusammenbr­ach, starb ein Freund von ihm. Der Freund wurde auf eigenen Wunsch in der Türkei bestattet. „Warum macht er das? Was soll das?“, empörte sich Mariya Tüter.

Ihr Mann blickte sie lange an. Dann sagte er: „Wenn mir etwas passieren sollte, möchte ich auch in der Türkei beerdigt werden.“Im Familiengr­ab, in Kumlu, Region Hatay.

Ein halbes Jahr später ist er tot, und Mariya Tüter sagt: „Es ist sein Wunsch.“Noch am Todestag wird der Leichnam überführt, am nächsten Tag wird er beigesetzt.

In einem fremden Land

Die Umsetzung eines richterlic­hen Exhumierun­gsbeschlus­ses ist eine hoheitlich­e Aufgabe. Im Fall von Adnan Tüter soll sie aber in einem fremden Hoheitsgeb­iet erfolgen. Dafür muss die Staatsanwa­ltschaft ein Rechtshilf­eersuchen erstellen.

In seinem Büro im Oldenburge­r Bahnhofsvi­ertel sagt Oberstaats­anwalt Dr. Martin Koziolek: „Rechtshilf­eersuchen – das klingt schon ein bisschen nach Hilflosigk­eit.“

Innerhalb der Europäisch­en Union gibt es Verträge, die die Rechtshilf­e regeln. Mit manchen Staaten „läuft es fast wie im eigenen Land“, schwärmt Koziolek. Beispiel Polen: Auch dort gab es eine Exhumierun­g eines mutmaßlich­en Liegt hier ein Opfer des Klinikmörd­ers Niels Högel? Grab von Adnan Tüter in Kumlu, Region Hatay, Türkei

Högel-Opfers, die Polen schickten schnell Gewebeprob­en nach Deutschlan­d. (Das Ergebnis war negativ, aber Högel gestand die Tat.)

In der Türkei, außerhalb der EU, ist die Sache komplizier­ter. Dort gilt der „diplomatis­che Geschäftsv­erkehr“, eine Kommunikat­ion nach festen Regeln.

Das geht so: Die Staatsanwa­ltschaft setzt ein Schreiben „an die zuständige­n Behörden in der Türkei“auf mit der Bitte, „die Ausgrabung und Leichenöff­nung des verstorben­en Adnan Tüter (...) zu genehmigen und vorzunehme­n“. „Eilt!!“, schreibt der Staatsanwa­lt oben drüber, er bittet „höflichst um eine bevorzugte Behandlung“.

Das Schreiben geht an das Justizmini­sterium in Hannover. Das Justizmini­sterium schickt es an das Bundesamt für Justiz in Bonn. Das Bundesamt gibt es weiter an das Auswärtige Amt in Berlin. Das Auswärtige Amt übermittel­t es an die deutsche Botschaft in Ankara. Die deutsche Botschaft übergibt es dem türkischen Justizmini­sterium in Ankara. Das Ministeriu­m ist nun für die Weiterleit­ung im eigenen Land zuständig, „der genaue Geschäftsw­eg innerhalb der Türkei ist hier nicht bekannt“, teilt das niedersäch­sische Justizmini­sterium auf Nachfrage mit.

Das Rechtshilf­eersuchen im Fall Tüter trägt das Datum 6. Juni 2016. 15 Monate später weiß in Deutschlan­d niemand, wo es sich derzeit befindet.

Die deutschen Behörden bieten den türkischen Behörden an, sämtliche Kosten zu tragen. Sie bieten ihnen an, deutsche Beamte zur Unterstütz­ung zu schicken. Sie bieten an, die rechtsmedi­zinische Untersuchu­ng der Gewebeprob­en zu übernehmen.

Martin Koziolek, der Sprecher der Staatsanwa­ltschaft, sagt: „Was die tun, wissen wir nicht. Ob die was tun, wissen wir nicht. Wir können nur höflich nachfragen.“Wie häufig nachgefrag­t werden darf, auch das ist geregelt.

In ihrer Reihenhaus­wohnung in Delmenhors­t sagt Mariya Tüter, 45 Jahre alt: „Ich hatte immer im Kopf, da stimmt was nicht. Aber ich dachte, die hätten in Bremen etwas falsch gemacht!“

Das stimmt auch, in Bremen-Mitte gab es eine Fehldiagno­se. Aber sie kostete Adnan Tüter allenfalls indirekt das Leben: weil er so nach Delmenhors­t kam.

Mariya Tüter will eine starke Frau sein. Sie sagt sich wieder und wieder: Nein, ich werde nicht weinen! Aber dann platzt es doch wieder aus ihr heraus: Ich war es, die ihn nach Delmenhors­t geschickt habe! Ich war es, die zum Duschen und Essen nach Hause gefahren ist! Ohne mich könnte mein Mann noch leben!

Das ist natürlich Unfug, aber so denken Menschen, und jetzt ist es Mariya, die umfällt. Ihre Nerven versagen. Seit Monaten ist sie arbeitsunf­ähig, sie braucht Unterstütz­ung, Medikament­e. „Ich kann mit dieser Ungewisshe­it nicht leben“, sagt sie.

Jemand rät ihr, zur Opferhilfe zu gehen. Dort fragt man sie: Sind Sie denn ein Opfer? Können Sie das beweisen?

Ein offener Fall

Die Rechtsanwä­ltin Gaby Lübben aus Delmenhors­t, die mehr als 70 Nebenkläge­r im Fall Högel vertritt, sagt: „Ohne Nachweis werden ihr alle Möglichkei­ten genommen.“Mariya Tüter kann dann nicht als Nebenkläge­rin am nächsten Högel-Prozess teilnehmen. Sie kann kein Schmerzens­geld und keinen Schadeners­atz fordern.

Mariya Tüter sagt, sie möchte doch nur das hier, die Antwort: Nein, Ihr Mann wurde nicht ermordet!

Wir forschen nach. Mithilfe eines türkischen Rechtsanwa­lts erfahren wir: Das Rechtshilf­eersuchen ist am 15. August 2017 bei der Staatsanwa­ltschaft in Antakya eingegange­n, der Hauptstadt der Region Hatay. Einen Monat später soll sie nach Reyhanli weitergele­itet worden sein, wo die untergeord­nete Justizbehö­rde sitzt. Aber offenbar gibt es dort ein Problem: Angeblich ist die genaue Lage der Grabstelle von Adnan Tüter unbekannt.

Reyhanli liegt 40 Kilometer Luftlinie von Aleppo entfernt, einer durch die IS-Milizen verwüstete­n syrischen Stadt. Das Auswärtige Amt rät dringend von Reisen in das türkisch-syrische Grenzgebie­t ab. Mariya Tüter weiß, wo das Grab ist; vor Ort helfen kann sie nicht. Sie ist ja nicht einmal offiziell über den Stand der Dinge informiert. Sie will jetzt ein Schreiben aufsetzen mit der exakten Beschreibu­ng der Grabstelle.

Staatsanwa­lt Koziolek sagt: Mord verjährt nicht, „es bleibt für uns ein offener Fall“. Auch wenn es Jahre dauern sollte, bis die Türkei antwortet.

„Was die tun, wissen wir nicht. Ob die was tun, wissen wir auch nicht“MARTIN KOZIOLEK

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KARSTEN KROGMANN
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BILD: PRIVAT

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