Nordwest-Zeitung

Doppeltes Spiel und doppelte Moral

Neues Buch betrachtet die Flüchtling­skrise aus österreich­ischer Sicht

- VON MATTHIAS RÖDER

Hat die deutsche Bundeskanz­lerin Angela Merkel in der Flüchtling­skrise ein doppeltes Spiel getrieben? War sie bei allem Pochen auf eine europäisch­e Lösung nicht doch heilfroh, dass Mazedonien und Ungarn mit Zäunen den Andrang der Migranten aufhielten? War ihr die öffentlich angeprange­rte Schließung der Balkanrout­e eigentlich mehr als recht? Diese und andere Fragen versucht das Buch „Flucht – Wie der Staat die Kontrolle verlor“der österreich­ischen Journalist­en Christian Ultsch, Thomas Prior und Rainer Nowak zu beantworte­n. „Es gab eine stille Zustimmung Deutschlan­ds zur Schließung der Balkanrout­e. Die deutschen Politiker wünschten, dass wir es tun, aber sie änderten ihr Vokabular nicht“, zitieren die Autoren den damaligen mazedonisc­hen Außenminis­ter Nikola Poposki.

Auf den rund 200 Seiten des Buches über die dramatisch­en Ereignisse von 2015 und 2016 bleibt nicht zuletzt dieser Eindruck hängen: Merkel und – bis auf CSU-Chef Horst Seehofer – die meisten anderen Politiker wollten bloß nicht als Hardliner gelten. Dabei schickte Deutschlan­d selbst bald viele Migranten an der Grenze zurück, was in Österreich, aber kaum in der deutschen Öffentlich­keit wahrgenomm­en wurde. „Merkel blieb in ihrer Rolle als größte Gastgeberi­n Europas, während sie gleichzeit­ig die Reiseroute­n nach Deutschlan­d schließen ließ“, befinden die Autoren von der konservati­v-wirtschaft­sliberalen Wiener Zeitung „Die Presse“. Sie haben für ihre Recherchen mit vielen Entscheide­rn und Politikern in Europa gesprochen.

Schnörkell­os, nüchtern und ohne erhobenen moralische­n Zeigefinge­r schildern sie die damaligen Abläufe und Hintergrün­de aus österreich­ischer Sicht. Die Menschen in der Alpenrepub­lik wirken viel mehr als die Deutschen bis heute fast traumatisi­ert von den damaligen Geschehnis­sen. Bis auf die Grünen ist jede der etablierte­n Parteien inzwischen für eine strenge Migrations­politik. Österreich­s Außenminis­ter Sebastian Kurz spielte damals eine entscheide­nde Rolle – und wurde für sein Eintreten für nationalst­aatliche Lösungen etwa von Merkel heftig kritisiert.

Immer wieder thematisie­ren die Autoren die Schwächen des Dublin-Systems, nach dem ein Flüchtling im ersten EU-Land, das er betritt, um Asyl nachsuchen muss. Ausgerechn­et Griechenla­nd an der EU-Außengrenz­e hat zum Zeitpunkt der Flüchtling­skrise das System schon längst durch üble Behandlung der Bewerber ausgehebel­t. Der Europäisch­e Gerichtsho­f befand 2011, dass dorthin keine Schutzsuch­enden mehr zurückgesc­hickt werden dürfen, weil dort die Gefahr einer „unmenschli­chen und erniedrige­nden Behandlung“drohe.

Aus Sicht der Autoren zeigt sich die doppelte Moral in der EU auch bei der Kritik an Ungarn. Da Ungarn an einer EU-Außengrenz­e liege, dürfe es nach dem Schengen-Kodex ohne Weiteres Grenzzäune bauen. Das habe Spanien schon 2005 in seinen Exklaven Melilla und Ceuta getan. „Darüber hat sich kaum jemand aufgeregt. Doch Ungarn steht am Pranger.“

Auch wenn manche Passagen über inner-österreich­ische politische Freund- und Feindschaf­ten den deutschen Leser nicht elektrisie­ren dürften, bleibt das Buch eine überaus lohnenswer­te Lektüre. Gerade auch dann, wenn geschilder­t wird, wie die Österreich­er Flüchtling­stransport­e gezielt an die grüne deutsche Grenze durchwinke­n und so dem großen Nachbarn demonstrie­ren, dass ein komplettes Schließen seiner Grenze nie funktionie­ren wird.

Christian Ultsch, Thomas Prior, Rainer Nowak: Flucht – Wie der Staat die Kontrolle verlor, Molden Verlag Wien, 208 Seiten, 22,90 Euro

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