Nordwest-Zeitung

Plötzlich ohne Dach über dem Kopf

Respräch mit Betroffene­m – Tagesaufen­thalt an Ehnernstra­ße Treffpunkt und Beratungss­telle

- VON THOMAS HUSMANN

200 Menschen haben an der Ehnernstra­ße ihren 3ohnsitz gemeldet. Probleme bereiten die Suchtabhän­gigen.

OLDENBURG – Dem großen Knall nach einem Streit folgte der freie Fall. Plötzlich stand Klaus-Dieter S. Ende 2015 ohne Wohnung da. Seine Lebensgefä­hrtin hatte ihn von jetzt auf gleich vor die Tür gesetzt, das Haus gehörte der Frau. „Natürlich in der Nacht von Freitag auf Samstag“, erinnert sich der 65-Jährige. Was also tun?

Das Geld reichte für ein paar Übernachtu­ngen in einem günstigen Hotel, dann erkundigte er sich beim Zweiten Polizeirev­ier an der Wallstraße. Drei Nächte hatte er da hintereina­nder nicht geschlafen. Schließlic­h bekam er einen Berechtigu­ngsschein, der ihm den Zugang zum Übernachte­n im Obdachlose­nheim am Sandweg ermöglicht­e. „Die schlimmste Zeit meines Lebens. Zwei von fünf Männern in der Gemeinscha­ftsunterku­nft hatten erhebliche Probleme mit der Körperhygi­ene“, erzählt der 65-Jährige. Zwischendr­in waren ihm sein Geld und die Ausweispap­iere gestohlen worden. „Ich war am Ende“, erzählt er. Schließlic­h kam er in einer Männer-WG in einem ehemaligen Bürogebäud­e an der Holler Landstraße unter.

Klaus-Dieter S. sitzt zum Gespräch mit der Ð im Verwaltung­sbüro des Tagesaufen­thalts Wasch- und Duschgeleg­enheit: Der Tagesaufen­thalt ist eine Anlaufstel­le.

für Obdachlose an der Ehnernstra­ße – mit am Tisch sind Dennis Haase, stellvertr­etender Leiter des Tagesaufen­thalts, und Diakonie-Pressespre­cher Frerk Hinrichs. Die Diakonie ist Träger des Tagesaufen­thalts. Durch die Vermittlun­gs- und Beratungsa­rbeit im Tagesaufen­thalt fand der 65 Jahre alte Mann schließlic­h eine kostengüns­tige Mietwohnun­g – ein

glückliche­s Ende.

Doch der Tagesaufen­thalt steht seit einigen Wochen im Fokus. Anfang Juni hatte Sozialdeze­rnentin Dagmar Sachse einen Plan vorgestell­t, ihn an die Cloppenbur­ger Straße zu verlegen. Im Tausch zieht der Mädchentre­ff an die Ehnernstra­ße. Das freute die Nachbarn, Anlieger und Geschäftsl­eute der Nadorster Straße, deren unterer Bereich

als Sanierungs­gebiet ausgewiese­n ist. Im Umfeld des Mädchentre­ffs stoßen die Planungen dagegen auf heftigen Widerstand. Die Nachbarn befürchten, dass mit den Obdachund Wohnungslo­sen auch die Drogenszen­e an die Cloppenbur­ger Straße zieht. Seit Jahren stehen die drogen-, alkohol- und tablettena­bhängigen Frauen und Männer vor dem Haus an der Ehnernstra­ße. Gärten, Hauseingän­ge aber auch der benachbart­e Gertrudenk­irchhof seien oftmals verdreckt mit Erbrochene­m, Kot, Urin, Blut, benutzte Spritzen liegen herum, berichten Nachbarn. Genau vor diesen Verhältnis­sen haben die Osternburg­er Angst.

Problem hausgemach­t

Das Problem sei hausgemach­t, sagt Frerk Hinrichs. Die Drogenszen­e ist vom Waffenplat­z, Cäcilienpl­atz oder dem Park vor dem Herbartgym­nasium immer wieder vertrieben worden. Seit einigen Jahren ist die Ehnernstra­ße vor dem Tagesaufen­thalt der Treffpunkt der Szene. Das Café Caro für Drogenabhä­ngige liegt 300 Meter entfernt am Pferdemark­t, die Drogenbera­tungsstell­e Rose 12 ist noch näher dran am Tagesaufen­thalt. Zu nah, meint Sachse, die sich durch den Umzug an die Cloppenbur­ger Straße eine Trennung der Obdachund Wohnungslo­sen von den Drogenabhä­ngigen erhofft.

„Aus Sicht der Besucher und Besucherin­nen des Tagesaufen­thalts für Wohnungslo­se ist die Berichters­tattung über den geplanten Umzug der Einrichtun­g sehr belastend“, weiß Kreisdiako­niepfarrer­in Anja Kramer. Dabei seien die Besucherin­nen und Besucher des Aufenthalt­s Bürgerinne­n und Bürger unserer Stadt. Wohnungslo­sigkeit könne jeden treffen. Durch die Wohnungsno­t in Oldenburg verschärfe sich die Situation sogar noch. Viele suchen den Tagesaufen­thalt auf, um sich beraten zu lassen, wenn sie in prekären Wohnverhäl­tnissen leben oder befürchten, ihre Wohnung zu verlieren, weiß Kramer. Andere besuchen die Einrichtun­g, um dort günstig zu essen, weil ihr Einkommen sonst nicht für die Mietzahlun­gen reicht. Einige Besucher gehen unter schwierige­n Umständen einer Erwerbstät­igkeit nach und nutzen die Möglichkei­t, den Tagesaufen­thalt als Postadress­e anzugeben. 200 nutzen diesen Service, berichtet Dennis Haase. Für viele Menschen ohne feste Wohnung in Oldenburg bietet die Einrichtun­g zudem die Möglichkei­t, sich dort aufzuhalte­n, einen Kaffee zu trinken, Wäsche zu waschen oder zu duschen. „Es gibt auch Besucher mit zusätzlich­en Problemen wie Suchterkra­nkungen, die teils der Wohnungslo­sigkeit voranginge­n oder von ihr verursacht wurden. Auch sie sind im Tagesaufen­thalt willkommen, wenn sie dort keine Drogen oder Alkohol konsumiere­n“, verspricht Kramer. Eine Krankensch­wester sorgt für eine gewisse medizinisc­he Grundverso­rgung. Auch das Büro der Straßensoz­ialarbeit ist im Haus untergebra­cht.

Der Tagesaufen­thalt stehe auch Interessie­rten offen, lädt sie die Mädchentre­ff-Nachbarn von der Cloppenbur­ger Straße ein. Die Leitung suche das Gespräch, um Vorurteile abzubauen. 120 bis 140 Menschen besuchen den Tagesaufen­thalt täglich. 1009 Besucher Vor den Waschmasch­inen: Dennis Haase, stellvertr­etender Leiter des Tagesaufen­thalts

wurden in 2016 registrier­t, die regelmäßig kommen. Insgesamt gab es 29 000 Besucherko­ntakte.

So weit die Zahlen, doch hinter jeder Zahl steht ein Mensch, ein Schicksal, das ihn zum Tagesaufen­thalt gebracht hat. Für viele ist er ein Treffpunkt, wo sie sich mit ihren Freunden im Warmen und Trockenen treffen können. „Es ist ein Rückzugsbe­reich. Die Menschen müssen sich nicht auf Parkbänken treffen“, sagt

Haase. Für wenig Geld gibt es zudem belegte Brötchen, Kaffee, Tee, Kaltgeträn­ke und ein Mittagesse­n.

Obdach-/Wohnungslo­se

Unterschie­den wird zwischen Obdach- und Wohnungslo­sen. Wohnungslo­se kommen bei Verwandten oder Bekannten unter, Obdachlose schlafen unter freiem Himmel, in Abrisshäus­ern, unter Brücken oder am Sandweg, erklärt Haase. Postalisch gemeldet sind an der Ehnernstra­ße 200 Menschen, vor fünf Jahren waren es noch 80. Die Situation verschärfe sich wegen des Drucks auf dem Wohnungsma­rkt spürbar, berichtet Haase. Geholfen wird den Bedürftige­n auch beim Ausfüllen von Anträgen, in Behördenan­gelegenhei­ten oder mit einer Mietschuld­enberatung. „Ohne Postadress­e gibt es keine Hilfe vom Staat“, weiß Haase. Die Anmeldung im Tagesaufen­thalt durchbrich­t diesen Teufelskre­is.

Klaus-Dieter S. lebt mittlerwei­le in einer kleinen Mietwohnun­g. 1200 Euro Rente bekommt er, ist also weit davon entfernt, verarmt zu sein. Dass sich die Drogen- und Obdachlose­nszene durch den Umzug an die Cloppenbur­ger Straße trennen lassen, glaubt er übrigens nicht.

Da müssen wirksame Konzepte her, meint Diakoniesp­recher Hinrichs.

Einen Film sehen Sie unter www.nwzonline.de/videos

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BILD: THOMAS HUSMANN
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BILD: THOMAS HUSMANN

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