Keine „kulturkritischen Klagegesänge“
Uni=ersität lädt ;um dreitägigen >ffentlichen S?mposium in BIS-Saal
Welches Potenzial bergen moderne Kinder- und Jugendbücher für die Vermittlung von Sprache und Kultur? Und was sind sprachsensible Zugänge? Die Uni bietet zur Kibum ein entsprechendes, öffentliches Symposium an. Wir sprachen mit Leiter Prof. Dr. Jörn Brüggemann zum Thema. FRAGE: Spitz formuliert: Sind Kinder und Jugendliche überhaupt noch in der Lage, längere Stücke und damit ganze Reizwelten zu ertragen, sich also nicht allein auf kurze Informationen einzulassen? BRÜGGEMANN: Es gibt keinen Grund, kulturkritische Klagegesänge anzustimmen. Der Anteil der Jugendlichen, der außerhalb der Schule freiwillig Bücher liest, liegt seit Jahren konstant bei ca. 40 Prozent. Wir wissen aber aus vielen Studien, dass Kinder und Jugendliche, die mit einem wenig reglementierten Fernsehbeziehungsweise Medien-Konsum aufwachsen und in ihrem Umfeld nicht auf Personen treffen, die ihnen eine literaturaffine Einstellung vorleben, freiwillig nicht zur Literatur greifen würden und – was noch schlimmer ist – Nachteile bei der Entwicklung schriftsprachlicher Leseund Verstehensfähigkeiten haben, ohne die gesellschaftliche Teilhabe schwer möglich ist. Mit unserem Symposium wollen wir Perspektiven aufzeigen, vor welchen Herausforderungen wir dabei stehen und welche Potenziale aktuelle Kinder- und Jugendliteratur birgt, um diese zu bewältigen. FRAGE: Warum sollten sich auch Eltern, Integrations- und Inklusionsbeauftragte für Ihr doch eher fachlich orientiertes Symposium interessieren? BRÜGGEMANN: Fachfremdheit heißt weder, dass man sich für das Thema nicht interessieren kann, noch heißt es, dass die Beiträge fachfremdem Publikum nicht zugänglich seien. Das Thema ist aktuell von besonderer gesellschaftlicher und schulischer Relevanz, denn es betrifft den Erwerb von sprachlichem und kulturellem Wissen in Zeiten großer Veränderungen. Kinderund Jugendliteratur kann helfen, Zugänge zu Sprache und Kultur(en) zu entwickeln – gleichzeitig gilt sie manchen als schwer zugänglich. Das ist zwar kein neues Phänomen, aber eines, das in einem veränderten medialen und gesellschaftlichen Umfeld neue Perspektiven erfordert – auch mit Blick auf die sprachlichen Herausforderungen, die Kinderund Jugendliteratur nicht nur für Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund bereithält. FRAGE: Wie hat sich denn das Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen verändert? BRÜGGEMANN: Kinder- und Jugendliteratur erscheint heute häufig in Medienverbünden und umfasst damit eine große Spannbreite von medialen Darstellungsformen mit extrem unterschiedlichen Komplexitätsgraden und Zugangsmöglichkeiten, etwa wenn ein Roman nicht mehr nur als Buch, sondern begleitet von Hörbuch, Film, Serie, App etc. veröffentlicht wird. Das verändert den Umgang mit Literatur. Wenn Kinder- und Jugendliche bereits vor und außerhalb der Schule Erfahrungen mit Medienverbünden machen, dann verfügen sie bereits implizit über Erfahrungen mit Fiktionalem, mit Narrationen, medialer und ästhetischer Urteilsbildung etc., an denen man in der Schule anknüpfen kann. Wie das gelingen kann, ist ein Aspekt unseres Symposiums. FRAGE: Die Universität trägt durchaus Mitverantwortung an Konzept – und Erfolg – der Kibum. Welchen Wert misst die Forschungsstelle der Zusammenarbeit tatsächlich bei? BRÜGGEMANN: Die jährlichen Themenstellungen der Kibum veranlassen Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Disziplinen, ihren Blick immer wieder neu auf den Gegenstand Kinder- und Jugendliteratur zu richten. Sie sind für uns ein Anlass, Kooperationen mit Kollegen fachfremder Disziplinen einzugehen, um kulturelle, mediale und künstlerische Entwicklungen transdisziplinär in den Blick zu nehmen. Daraus ergeben sich wichtige Impulse für die Forschung, die neue Fragestellungen ermöglichen. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Forschungen aus dem Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache haben gezeigt, dass der Erwerb von sogenannten Fach- und Bildungssprachen für den fachlichen Lernerfolg von Heranwachsenden mit und ohne Migrationshintergrund eine Hürde darstellt, an der sie ohne systematische Unterstützung scheitern. Wir zeigen in unserem Symposium, dass diese Erkenntnis auch ästhetische Bildungsprozesse betrifft und entwickeln Vorschläge für einen sprachsensiblen Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur.