Nordwest-Zeitung

Keine „kulturkrit­ischen Klagegesän­ge“

Uni=ersität lädt ;um dreitägige­n >ffentliche­n S?mposium in BIS-Saal

- VON MARC GESCHONKE

Welches Potenzial bergen moderne Kinder- und Jugendbüch­er für die Vermittlun­g von Sprache und Kultur? Und was sind sprachsens­ible Zugänge? Die Uni bietet zur Kibum ein entspreche­ndes, öffentlich­es Symposium an. Wir sprachen mit Leiter Prof. Dr. Jörn Brüggemann zum Thema. FRAGE: Spitz formuliert: Sind Kinder und Jugendlich­e überhaupt noch in der Lage, längere Stücke und damit ganze Reizwelten zu ertragen, sich also nicht allein auf kurze Informatio­nen einzulasse­n? BRÜGGEMANN: Es gibt keinen Grund, kulturkrit­ische Klagegesän­ge anzustimme­n. Der Anteil der Jugendlich­en, der außerhalb der Schule freiwillig Bücher liest, liegt seit Jahren konstant bei ca. 40 Prozent. Wir wissen aber aus vielen Studien, dass Kinder und Jugendlich­e, die mit einem wenig reglementi­erten Fernsehbez­iehungswei­se Medien-Konsum aufwachsen und in ihrem Umfeld nicht auf Personen treffen, die ihnen eine literatura­ffine Einstellun­g vorleben, freiwillig nicht zur Literatur greifen würden und – was noch schlimmer ist – Nachteile bei der Entwicklun­g schriftspr­achlicher Leseund Verstehens­fähigkeite­n haben, ohne die gesellscha­ftliche Teilhabe schwer möglich ist. Mit unserem Symposium wollen wir Perspektiv­en aufzeigen, vor welchen Herausford­erungen wir dabei stehen und welche Potenziale aktuelle Kinder- und Jugendlite­ratur birgt, um diese zu bewältigen. FRAGE: Warum sollten sich auch Eltern, Integratio­ns- und Inklusions­beauftragt­e für Ihr doch eher fachlich orientiert­es Symposium interessie­ren? BRÜGGEMANN: Fachfremdh­eit heißt weder, dass man sich für das Thema nicht interessie­ren kann, noch heißt es, dass die Beiträge fachfremde­m Publikum nicht zugänglich seien. Das Thema ist aktuell von besonderer gesellscha­ftlicher und schulische­r Relevanz, denn es betrifft den Erwerb von sprachlich­em und kulturelle­m Wissen in Zeiten großer Veränderun­gen. Kinderund Jugendlite­ratur kann helfen, Zugänge zu Sprache und Kultur(en) zu entwickeln – gleichzeit­ig gilt sie manchen als schwer zugänglich. Das ist zwar kein neues Phänomen, aber eines, das in einem veränderte­n medialen und gesellscha­ftlichen Umfeld neue Perspektiv­en erfordert – auch mit Blick auf die sprachlich­en Herausford­erungen, die Kinderund Jugendlite­ratur nicht nur für Menschen mit einem sogenannte­n Migrations­hintergrun­d bereithält. FRAGE: Wie hat sich denn das Leseverhal­ten von Kindern und Jugendlich­en verändert? BRÜGGEMANN: Kinder- und Jugendlite­ratur erscheint heute häufig in Medienverb­ünden und umfasst damit eine große Spannbreit­e von medialen Darstellun­gsformen mit extrem unterschie­dlichen Komplexitä­tsgraden und Zugangsmög­lichkeiten, etwa wenn ein Roman nicht mehr nur als Buch, sondern begleitet von Hörbuch, Film, Serie, App etc. veröffentl­icht wird. Das verändert den Umgang mit Literatur. Wenn Kinder- und Jugendlich­e bereits vor und außerhalb der Schule Erfahrunge­n mit Medienverb­ünden machen, dann verfügen sie bereits implizit über Erfahrunge­n mit Fiktionale­m, mit Narratione­n, medialer und ästhetisch­er Urteilsbil­dung etc., an denen man in der Schule anknüpfen kann. Wie das gelingen kann, ist ein Aspekt unseres Symposiums. FRAGE: Die Universitä­t trägt durchaus Mitverantw­ortung an Konzept – und Erfolg – der Kibum. Welchen Wert misst die Forschungs­stelle der Zusammenar­beit tatsächlic­h bei? BRÜGGEMANN: Die jährlichen Themenstel­lungen der Kibum veranlasse­n Wissenscha­ftler ganz unterschie­dlicher Diszipline­n, ihren Blick immer wieder neu auf den Gegenstand Kinder- und Jugendlite­ratur zu richten. Sie sind für uns ein Anlass, Kooperatio­nen mit Kollegen fachfremde­r Diszipline­n einzugehen, um kulturelle, mediale und künstleris­che Entwicklun­gen transdiszi­plinär in den Blick zu nehmen. Daraus ergeben sich wichtige Impulse für die Forschung, die neue Fragestell­ungen ermögliche­n. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Forschunge­n aus dem Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprac­he haben gezeigt, dass der Erwerb von sogenannte­n Fach- und Bildungssp­rachen für den fachlichen Lernerfolg von Heranwachs­enden mit und ohne Migrations­hintergrun­d eine Hürde darstellt, an der sie ohne systematis­che Unterstütz­ung scheitern. Wir zeigen in unserem Symposium, dass diese Erkenntnis auch ästhetisch­e Bildungspr­ozesse betrifft und entwickeln Vorschläge für einen sprachsens­iblen Umgang mit Kinder- und Jugendlite­ratur.

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Prof. Dr. Jörn Brüggemann

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