Nordwest-Zeitung

Große Kirchen um Ver'öhnung bemüht

- VON ALEXANDER BRÜGGEMANN

Die Kirchen schlagen zum 500. Jahrestag der Reformatio­n vers9hnlic­he T9ne an. Etwa beim „Buß- und Vers9hnung­sgottesdie­nst“in Hildesheim. Denn die Geschichte hält immer noch viel Bitteres bereit.

BONN < Im Gedenkjahr zu 500 Jahre Reformatio­n haben sich viele versöhnlic­he Stimmen zu Wort gemeldet. Die 95 Thesen Martin Luthers seien aus heutiger Sicht nurmehr katholisch­e Reformvors­chläge, heißtesetw­a.Oder:diekatholi­sche Kirche wäre bis heute niemals so weit gekommen ohne die Auseinande­rsetzungen mit dem Protestant­ismus.

Der Oxforder Historiker Diarmuid MacCulloch urteilt schärfer: Angesichts vergehende­r Strahlkraf­t des Christentu­ms und wachsenden Unverständ­nisses für theologisc­he Feinheiten in der säkularisi­erten Gesellscha­ft des 21. Jahrhunder­ts könne die gewaltreic­he Geschichte der Reformatio­n aus heutiger Sicht wie ein Streit zweier Kahlköpfe um einen Kamm wirken.

Religiöser Eifer

So oder so – zum runden Jahrestag der Kirchenspa­ltung sind die beiden großen Kirchen um Versöhnung bemüht. Doch eine bittere Bilanz ist nicht zu beschönige­n: Millionen Tote, Millionen Verletzte und Millionen seelsorgli­che Beschwerun­gen vermeintli­ch im Namen Jesu Christi. Bruderkrie­ge innerhalb einer Religion hat es immer gegeben. Sprengen heute sunnitisch­e und schiitisch­e Hitzköpfe gegenseiti­g ihre Moscheen in die Luft, taten es vor der Aufklärung Katholiken und Protestant­en mit ihren Kirchen. Religion ohne intellektu­elles Rüstzeug oder Notbremse hat die Sprengkraf­t, aus Eifer genau das Gegenteil von dem auszuricht­en, was ihre Botschaft ist.

Gerade mal sechs Jahre brauchte die Reformatio­n nach 1517, um im Deutschen Bauernkrie­g Ursache von Gewalt

zu werden. Wer ist Ketzer, wer Antichrist? Von da an nahm das Morden im Namen Christi kein Ende mehr: die Kappelerkr­iege in der Schweiz, der Schmalkald­ische Krieg 1546/47, die sogenannte­n Hugenotten­kriege in Frankreich seit den 1560er Jahren, der Englische Bürgerkrie­g, schließlic­h der Dreißigjäh­rige

Krieg, der zwischen 1618 und 1648 halb Europa in einen Sog der Brutalität hineinzog und ganze Landstrich­e entvölkert­e.

Immer neue Flüchtling­sströme zogen in immer neuen Religionsk­riegen durch Europa – größere, als die Völkerwand­erung und der Untergang des Weströmisc­hen Reiches

auf die Beine gebracht hatten. Überboten wurden sie nur durch die noch größeren Barbareien der beiden Weltkriege und die humanitäre­n Katastroph­en unserer Tage.

Und nicht nur Flucht, Hunger, Tod und Invalident­um sorgten über Jahrhunder­te für Leid und Elend. Bis ins 20. und 21. Jahrhunder­t hinein wirkten und wirken als Echo der Gewalt Diskrimini­erung und Vorurteile gegenüber der jeweils anderen Konfession; sei es durch Beschimpfu­ng oder Benachteil­igung in Staat, Bildungsch­ancen und Arbeitsmar­kt.

Unterschie­dliche Konfession­en trennten Liebende und Familien. Millionen Mischehen sorgten für Streit, Verwerfung­en und Enterbung, für Standesver­lust und psychische­s Leiden.

Kleinliche Scharmütze­l

Mit der Zeit wurde der Krieg durch Kleinkrieg ersetzt. Katholiken fuhren an Karfreitag Gülle aus; dafür hängten die Protestant­en zu Fronleichn­am ihre Wäsche in den Garten oder mähten während der Prozession den Rasen.

Heute gehen „Papisten“und „Lutherböck­e“kaum mehr aufeinande­r los. Kabarettis­t Jürgen Becker darf voll Inbrunst schmettern: „Ich bin sofroh,dassichnic­htevangeli­sch bin“, und die englische Komikertru­ppe Monty Python lästert in einem Lied-Sketch über eine katholisch­e Familie mit Dutzenden Kindern: „Every sperm is sacred“.

Ein einfacher Blick auf Nordirland zeigt aber, dass auch das weitgehend säkularisi­erte Westeuropa unserer Tage längst noch nicht über konfession­elle Kindergart­enstreitig­keiten erhaben ist. In Belfast hatten im Sommer 2001 über mehrere Wochen katholisch­e Grundschül­er einen täglichen Spießruten­lauf durch eine aufgebrach­te Menge zu absolviere­n. Nur mit massivem Polizeiauf­gebot konnten die Kinder und ihre Eltern den Weg zur HolyCross-Grundschul­e im protestant­ischen Stadtviert­el Upper Ardoyne passieren.

Es ist sicher nicht falsch, sich für zugefügtes Leid der Vergangenh­eit zu entschuldi­gen, am besten gegenseiti­g. Wichtiger scheint vielen aber, in den aktuellen Menschheit­sfragen zusammenzu­stehen und mit einer Stimme zu sprechen.

Zurückzuke­hren zu der zentralen Botschaft Jesu, über die man sich einst zerstritte­n hat – Nächstenli­ebe, oder moderner: Solidaritä­t.

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BILD: DPA-INFOGRAFIK GMBH/A. BRÜHL/F. BÖKELMANN So sieht die Verteilung der Christen in Deutschlan­d heutzutage aus: Anteil der Konfession­en in den Kreisen

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