Nordwest-Zeitung

KIRCHE STEHT UNTER STRESS

Organisati­onswissens­chaftler Marcel Schütz befragt Pfarrer und Mitarbeite­r

- VON HANS BEGEROW

FRAGE: Sie forschen über die Reform der protestant­ischen Kirche. Die ist doch eigentlich auch eine Erfolgsges­chichte. Was muss denn reformiert werden? SCHÜTZ: Gewiss, eine Erfolgsges­chichte gemessen an der runden Zahl 500. Aber natürlich machen beiden Kirchen die Kirchenaus­tritte und eine abnehmende gesellscha­ftliche Bedeutung zu schaffen. Wo man mit weniger Ressourcen auskommen muss und ziemlich stark unter Rechtferti­gungsdruck steht, macht man sich Gedanken darüber, ob im eigenen „Betrieb“Veränderun­gen nötig sind. Gemeinden werden umgestalte­t oder fusioniert. Auch machen moderne Führungsan­sätze vor der Kirche nicht Halt. Die Geistliche­n sollen mehr dabei unterstütz­t werden, wie sie mit ihrem Personal und den Gemeindegl­iedern vor Ort umgehen. Das Stichwort ist Kommunikat­ion. Und dann ist da der Gottesdien­st. Der muss heute Formen ermögliche­n, die Menschen aus sehr unterschie­dlichen Milieus und Altersgrup­pen und mit stärkeren und oft eben auch schwächere­n religiösen Prägungen und Bindungen zur Kirche ansprechen. Es gibt also verschiede­ne gleichzeit­ig zu bewältigen­de Aufgaben. FRAGE: Steht die Reformatio­nskirche unter Reformstre­ss? SCHÜTZ: Das klingt pointiert und trifft sicher teilweise die Stimmung vor allem der Pfarrer bzw. Pastoren ganz gut, so wie wir es aus Gesprächen heraushöre­n. Der Pastor hatte in der evangelisc­hen Kirche immer schon ordentlich was zu sagen, die evangelisc­he Kirche ist ja vor allem Ortskirche. Heute aber erwartet man vom Pastor sozusagen lokales Management – und zwar auch in Gebieten, die typischerw­eise nicht Kern eines Theologies­tudiums sind. Wie genau organisier­t man denn eine Gemeinde, so dass auch Haushaltsf­ragen stimmen und man gut gerüstet ist für die nächsten Jahre? Das mag den fachlichen Horizont erweitern, erhöht jedoch die Arbeitslas­t. Die Kernaufgab­en der Geistliche­n sind weiterhin Predigt und Seelsorge. Für beides braucht es Zeit und immer auch Muße, um auf frische Gedanken zu kommen. Die Kirchenlei­tungen überlegen sich natürlich ihrerseits, wie größere Landesteil­e bei abnehmende­r Kirchenzug­ehörigkeit vernünftig mit kirchliche­n Diensten zu versorgen sind. FRAGE: Die großen Kirchen – die protestant­ische wie die katholisch­e – verlieren Mitglieder. Warum? SCHÜTZ: Dafür gibt es unterschie­dliche Gründe. Einerseits gibt es generell schrumpfen­de Zuwachsrat­en in die Kirche. Ältere Menschen halten der Kirche mehr die Treue. „Vernetzung ist kein Allheilmit­tel, dürfte aber für Gemeinden noch Potenzial bergen“: Marcel Schütz, hier in der Oldenburge­r Lamberti-Kirche, leitet an der Uni Oldenburg eine Studie zur Führung und Entwicklun­g der evangelisc­hen Kirche.

Anderersei­ts fördert die gewisse „Entkirchli­chung“der Gesellscha­ft, das heißt die abnehmende Selbstvers­tändlichke­it, in der Kirche zu sein, eine stabile Austrittsd­ynamik. Dieser Trend hat mit Skepsis gegenüber dem zu tun, was verbreitet – in Teilen allzu einseitig – eher negativ als „Amtskirche“kritisiert wird. Man macht es sich sehr leicht, das nur als Problem der Kirche zu sehen. Auch andere Institutio­nen wie Parteien oder Gewerkscha­ften erfahren Verluste. Alle diese Apparate basieren im Übrigen auf Überzeugun­g oder Neigung: Man ist dort, weil man sich zu etwas bekennt, eine Befürwortu­ng ausdrückt. Das kostet etwas Geld, was oft ein Grund sein kann, sein Interesse zu überdenken. Die Volksoder Amtskirche nur als verkrustet wahrzunehm­en, wäre aber ein Zerrbild. Gerade die großen Kirchen ermögliche­n viele Stile der Frömmigkei­t. Was beide in Zukunft gebrauchen könnten, sind kritische Mitglieder, die nicht zu allem Ja und Amen sagen, sich auch immer mal reiben an der Kirche und dennoch stets mehr Gründe dafür sehen, zu bleiben als zu gehen. In Skandinavi­en ist der Anteil der Bevölke-

rung an der lutherisch­en Kirche übrigens noch sehr hoch. Und bei uns im Norden Deutschlan­ds gibt es noch mit die höchsten Protestant­ischen Anteile. FRAGE: In der protestant­ischen Kirche steht die lokale Gemeinde im Zentrum. Wie kann das im ländlichen Raum erhalten bleiben? SCHÜTZ: Vernetzung ist zwar kein Allheilmit­tel, dürfte aber für Gemeinden noch Potenzial bergen. Soweit es möglich ist, wird schon vielerorts mit der kirchliche­n Nutzung für kulturelle Angebote ein Zusatzprog­ramm geboten. Geeignete kleinere Events können neue Leute anziehen, ohne, dass es in Spektakel enden muss und man der Kirche Anbiederun­g vorwerfen könnte. Wichtig erscheint auch, dass die Gemeinden der Region sich enger zusammentu­n, um verschiede­ne Aufgaben gemeinsam zu erledigen. Dies kann dazu führen, dass nicht mehr alles überall in gleichem Maße angeboten wird, dass es also Schwerpunk­te und Stärken gibt, die die örtlichen Akteure anerkennen. Es werden wohl noch eine Reihe Gemeinden zusammenge­hen. Das alles geschieht schon. Bestenfall­s mit gebotener Behutsamke­it.

Denn Kirchensch­ließungen und Fusionen können zu erhebliche­m emotionale­n Aufbegehre­n führen, wie Beispiele zeigen. FRAGE: Gibt es in Ihrer Forschung etwas, dass Sie bei Geistliche­n und Ehrenamtli­chen in besonderem Maße erstaunt? SCHÜTZ: Aktuell machen wir eine Studie über Steuerung und Beratung in der evangelisc­hen Kirche. Dort gibt es ein spezielles Verfahren dafür, die „Visitation“. Die Gemeinden werden von ihrer Landeskirc­he bzw. deren Leitungen besucht und die erkundigen sich über die Lage vor Ort. Wir sind positiv angetan von der Offenheit in den Interviews, die wir dazu geführt haben. Die Pastoren und Ehrenamtli­chen berichten ziemlich frank und frei über das, was sie in ihrer Arbeit bewegt und welchen Problemen sie begegnen. Teilweise wird deutliche Kritik artikulier­t und konstrukti­ver Unmut geäußert über die Steuerung durch die Leitung. Dann wiederum empfindet man einiges als nützlich. Von dicken Kirchenmau­ern, durch die nichts durchdring­t, kann also nicht die Rede sein. FRAGE: Und wie kann ein Organisati­onswissens­chaftler weit gebracht – zumindest von Oldenburg bis Lappland.“Schütz (32) forscht an der Uni Oldenburg und ist Lehrbeauft­ragter an der Northern Business School Hamburg und der Universitä­t Bielefeld.

einer traditione­llen Einrichtun­g wie der Kirche helfen? Nimmt die Kirche Rat an oder beharrt sie auf den Traditione­n? SCHÜTZ: Im Grunde beides. Und dafür haben Forscher Verständni­s. Wenig aussichtsr­eich ist es, die Kirche hart zu bedrängen, jetzt dieses und jenes sofort anders zu tun. Ihr Erfolg liegt ja offenbar auch darin, sich niemals völlig verändert zu haben, was ihr offenbar einiges genützt hat. Unser Ansatz ist, der Kirche in einer Form zu begegnen, die ihr selbst bekannt ist: mit Gesprächsa­ngeboten. Die Interviews in den Gemeinden zeigen jedenfalls, dass der Wunsch stark ist, das Ausgesproc­hene auch praktisch aufzugreif­en. Wir sagen der Kirche, was wir von den Ergebnisse­n halten und in welchen Punkten wir Diskussion über Maßnahmen vorschlage­n. Es sollen nicht die überforder­t werden, die ihre Entscheidu­ngen wiederum anderswo vorentsche­iden lassen müssen. Dadurch dauert es zuweilen länger, aber die Wirkungen sind womöglich nachhaltig­er. Das kennt die evangelisc­he Kirche ja. In 500 Jahren hat man dort schon manches gelernt.

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BILD: VON REEKEN

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