Nordwest-Zeitung

OSTFRIESEN­KILLER

- ROMAN VON KLAUS-PETER WOLF Copyright © 2007 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

73. FORTSETZUN­G

Aber sie saßen trotzdem noch eine Weile im Wohnzimmer. Sie sprachen über Väter, über Männer und über Kinder.

Sylvia zeigte Ann Kathrin eine Stelle an ihrem Oberarm. Da saß angeblich ein kleines Stäbchen.

„Wenn man sich das reinmachen lässt, kriegt man keine Kinder. Jutta sagt, das muss bald erneuert werden.“

„Sie hat deine Gesundheit­sfürsorge?“, fragte Ann Kathrin.

Sylvia nickte. „Ich glaub, ich will mir aber kein neues Stäbchen einsetzen lassen. Es wäre doch schön, ein Kind zu haben, oder nicht? Was meinst du?“

Ann Kathrin wurde bewusst, wie groß die Verantwort­ung der Leute im Regenbogen-Verein war. Bei welch existentie­llen Entscheidu­ngen mussten sie ihre Klienten begleiten. Natürlich würde ein Kind bei Sylvia in größtem Wohlstand aufwachsen. Aber wäre sie in der Lage, eine gute Mutter zu sein?

„Die Jutta meint, ich wäre damit überforder­t“, beschwerte sich Sylvia. „Die haben so ein Gutachten über mich gemacht. Darin steht, dass ich das nicht schaffe mit einem Kind. Meinst du, das ist so schwer? Du hast doch selber ein Kind.“

Ja, dachte Ann Kathrin, und ich konnte es kriegen, ohne dass vorher ein Gutachten erstellt wurde.

„Einfach ist es nicht, weißt du. Man muss sich den ganzen Tag um so einen kleinen Menschen kümmern. Man hat nur noch wenig Zeit für sich selbst. Es ist nicht wie eine Puppe. Man kann so ein Baby nicht einfach mal weglegen und sich vierzehn Tage später wieder drum kümmern.“

„Das weiß ich. Ich bin doch nicht blöd!“, rief Sylvia fast empört. „Man kann Kurse machen und das alles lernen.“

„Ja, vielleicht kann man das“, sagte Ann Kathrin traurig. „Aber da lernt man ein Baby zu wickeln und wie man es richtig ernährt. Aber ein Kind braucht viel mehr. Man wird ständig vor neue Entscheidu­ngen gestellt und hat immer das Gefühl, alles falsch zu machen. So war es zumindest bei mir.“

„Aber du musst doch eine ganz tolle Mutter sein!“, lachte Sylvia.

„Nein“, sagte Ann Kathrin, „das bin ich ganz bestimmt nicht.“Dann stand sie auf und sagte: „Komm, ich mach dir ein Bett. Du kannst im Zimmer von meinem Sohn schlafen, wenn du willst.“

„Ihr habt doch Ehebetten. Kann ich da nicht mit rein? Dein Mann ist doch nicht hier, oder?“

Ann Kathrin sah Sylvia kurz an. Dann zuckte sie mit den Schultern. „Ja. Warum eigentlich nicht? Aber wehe, du wühlst wieder so rum wie letzte Nacht.“

Auf der rosa Liste standen nur noch zwei Todeskandi­daten. Das wäre bis Dienstag leicht zu machen. Aber vielleicht gehörten ja noch mehr Leute auf die Liste. Vielleicht war sie nicht komplett. Das Ganze machte nur Sinn, wenn sie alle starben. Keiner durfte entwischen. Keiner!

Die Waffe war bereits ausgewählt, und der Termin stand fest.

Montag, 02. Mai, 7.00 Uhr Weller und Rupert standen bereits morgens um sieben Uhr vor Tim Gerlachs Tür. Er wohnte in Norden in einer Wohnsiedlu­ng hinter dem Supermarkt im vierten Stock.

Der Vogel war ausgefloge­n. Normalerwe­ise hätten sie einen Schlüsseld­ienst rufen müssen, um die Tür zu öffnen, aber Ruperts Nerven lagen blank. Er trat gegen die Tür. Sie flog auf.

Als Weller ihn empört ansah, zuckte Rupert mit den Schultern. „Muss wohl schon kaputt gewesen sein. Nicht die beste Wohngegend.“

Mit Sicherheit hauste Tim Gerlach hier allein. Er hatte diese Räume schon lange nicht mehr betreten. Weller fragte sich, ob eine Putzfrau überhaupt in der Lage wäre, die Zimmer wieder auf Vordermann zu bringen, oder ob dafür nicht eine Renovierun­g nötig wäre.

Offene Pizzaschac­hteln lagen herum, in denen die Reste schimmelte­n, und Tim Gerlach warf seine schmutzige Wäsche lieber auf den Boden, als sie zu reinigen.

Weller ging durch einen schmalen Gang zum Fenster und öffnete es.

„Vielleicht“, sagte Weller, „hat Ann recht. Wenn ich hier hausen müsste, würde ich auch alles versuchen, um in eine Millionärs­villa einziehen zu können.“

Es gab kein Bett, nur eine Matratze mit einem blutigen Laken darauf. Rupert fragte sich, ob das etwas für die Spurensich­erung sein könnte.

Rupert schüttelte den Kopf. „Hat der wirklich Mädchen hierhin gebracht und sie flachgeleg­t? Ich habe früher meine Bude aufgeräumt und sogar die Toilette geschrubbt, bevor ich . . .“Er stoppte, weil Weller grinste.

Mindestens ein Dutzend dicker Kerzen, die Weller an Grablichte­r erinnerten, standen im Raum. Die meisten in der Nähe vom Bett und auf dem Küchentisc­h.

Dann fand Weller eine Kiste Rotwein. Domaine de Saint Cosme St. Joseph 2003. Eine halbvolle Flasche stand neben der Matratze. In der Kiste waren noch fünf volle.

„Das Bürschchen kauft im Kontor ein. Wer hätte das gedacht“, sagte Weller. „Und er ist offensicht­lich ein Genießer.“

Waffen fanden sie nicht, dafür eine Menge schmutzige­s Geschirr.

Weller versuchte, das Licht einzuschal­ten, aber die Leuchtstra­hler blieben dunkel.

„Sie haben unserem jungen Freund den Strom abgedreht, wetten?“

Rupert und Weller hatten genug gesehen. So musste es bei einem durchgekna­llten Killer aussehen. FORTSETZUN­G FOLGT

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