Landwirten gehen die Bestäuber aus
Kleine Tiere lebensnotwendig – Bauern selbst als Verursacher am Pranger
Langzeitstudie meldet 76 Prozent weniger Insekten in gut 25 Jahren. Politiker, Landwirte und Umweltschützer liegen im 9linch.
KREFELD/BERLIN – Zu TierwohlDiskussion und GülleSchwemme droht den Landwirten ein weiteres Imageproblem: das Insektensterben. Nachdem eine wissenschaftliche Langzeitstudie einen Rückgang der Insektenpopulation in Deutschland um 76 Prozent seit 1990 festgestellt hat, wird vor allem die heutige Agrarproduktion hierfür verantwortlich gemacht. Doch die Bauern-Funktionäre wiegeln ab. Dabei sind sie die Hauptleidtragenden. Denn sie brauchen Insekten wie kein anderer.
Ursachen noch unk-ar
Die Langzeitstudie stammt von der niederländischen Radbound-Universität in Nijmwegen und dem Entomologenverein Krefeld. Betroffen vom drastischen Rückgang sind danach vor allem Fluginsekten wie Schmetterlinge, Bienen, Wespen, Motten oder Mücken. Viele Fluginsekten sind aber lebensnotwendig als Bestäuber von Wild- und Nutzpflanzen – und damit für vieles, was auf den Äckern
wachsen soll –, aber auch als Beute für Vögel.
Die Wissenschaftler selbst äußern sich zu den Ursachen des Insektensterbens nur vage und räumen ein, dass noch weitere Analysen nötig seien. Politiker, Umweltschützer und Bauern-Funktionäre allerdings gingen sofort in den Clinch. „Neben der Ausräumung der Agrarlandschaft hat insbesondere die massive Anwendung von Pestiziden und anderer Chemikalien das Insektenund Artensterben beschleunigt. Daher muss es
schärfere Auflagen in den Genehmigungsverfahren geben, im Zweifel müssen erteilte Zulassungen zurückgenommen werden. Pestizide, die bienenbzw. insektengefährlich sind, müssen vom Markt verschwinden“, so Niedersachsens Ex-Agrarmister Christian Meyer (Grüne).
Die geschäftsführende Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) ergänzte: „Die Intensivierung der Landwirtschaft spielt gewiss eine Rolle, denn sie reduziert den Lebensraum für Insekten.“
Ein „Weiter wie bisher“könne man sich nicht leisten. Und auch die Umweltorganisation NABU forderte ein „sofortiges und vollständiges Verbot hochwirksamer Insektengifte“.
Für den geschäftsführenden Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) sind „belastbare Aussagen zu den Ursachen des Insektensterbens aus der Studie nicht ableitbar“. Er nimmt regierende Politik und Bauern in Schutz: „Wir tun bereits heute eine Menge für den Schutz der biologischen Vielfalt im Agrarraum, wie Greening und die Förderung von Blühstreifen.“Und für den Deutschen Bauernverband (DBV) sind vor allem Industrie, Urbanität, Verkehr, Jahreswitterung und Klimaveränderungen die Haupteinflussgrößen für die Entwicklung der Artenvielfalt. Die Landwirte betreiben laut DBV-Präsident Joachim Rukwied eine ganze Reihe von Projekten zum Erhalt der Artenvielfalt, „weil dies die Grundlage unserer Existenz ist“. Auf jedem dritten Hektar würden freiwillige Agrarumweltmaßnahmen umgesetzt.
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Viele Verbraucher sehen weniger Insekten allerdings eher positiv. Mücken stören im Sommer den Grillgenuss; Wespen den Obstkuchengenuss im Freien. Und dass bei längeren Autofahrten im Sommer nicht ständig die Windschutzscheibe von Insektenmatsch gereinigt werden muss, haben viele in den letzten Jahren auch schon erfreut festgestellt.
„Schockierend“nennt aus Wissenschaftssicht der Zoologe Johannes Steidle von der Universität Hohenheim die Ergebnisse der Untersuchung und stellt alarmierend fest: „Wir befinden uns mitten in einem Albtraum, da Insekten eine zentrale Rolle für das Funktionieren unserer Ökosysteme spielen.“