OSTFRIESENKILLER
ROMAN VON KLAUS-PETER WOLF Copyright © 2007 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Pralinenschachtel und dem bunten Verpackungspapier gab es nur Fingerabdrücke von Josef de Vries.
Alle Süßwarengeschäfte, Supermärkte und Bäcker, die solche Pralinen verkauften, wurden inzwischen überprüft. Man zeigte den Mitarbeitern Fotos von Kohlhammer und Tim Gerlach.
Das Geschenkpapier, in das die Pralinen eingepackt worden waren, wurde schon seit zwei Jahren nicht mehr hergestellt. Natürlich war nicht auszuschließen, dass Geschäfte noch Restposten davon hatten, die letzten großen Lagerbestände seien auf Weihnachtsmärkten verkauft worden, behauptete die Herstellerfirma.
Ann Kathrin und Weller einigten sich darauf, dass sie sich Tim alleine vornehmen würde, während Weller und Rupert sich erneut Kohlhammer vorknöpften.
Tim war erleichtert, als Weller verschwand. Er hatte das Gefühl, mit Frauen besser klarzukommen als mit Männern. Er wusste, dass er die hier nicht einwickeln konnte, aber er traute sich zu, sie zu verunsichern.
„Was wollen Sie von mir?“, fauchte er. „Sie können mich nicht ernsthaft wegen Einbruchs festnehmen. Die hat einfach die Schlösser auswechseln lassen, so dass ich mit meinem Schlüssel nicht mehr reingekommen bin. Da drin waren noch Sachen von mir, die wollte ich mir holen. Ich brauch die ...“
„Sie haben Sylvia Kleines geistige Behinderung zu Ihrem Vorteil ausgenutzt. Sowohl sexuell als auch finanziell.“
Tim Gerlach grinste und trommelte mit den Fingern einen provozierenden Rhythmus auf die Tischplatte. „Was soll das heißen? Ich hab sie gefickt, na und? Das ist doch nicht verboten. Das würde Ihr Kollege mit Ihnen auch gerne machen. Der traut sich nur nicht, so offen darüber zu reden, stimmt’s?“„Ich stelle hier die Fragen.“Im Radio liefen Oldies. Jetzt sang gerade Bruce Springsteen. Die Musik half Ann Kathrin, ruhig zu bleiben. Sie wollte sich auf keinen Fall von dem Bengel provozieren lassen.
Tim Gerlach legte seinen Kopf schräg und sah sie durchdringend an. „Oder hat er es schon bei Ihnen versucht? Hat er Sie flachgelegt? Nein, glaube ich nicht. Sie machen so einen unbefriedigten Eindruck . . .“
Ann Kathrin kannte so etwas. Junge Männer drehten manchmal so auf. Dann waren sie kurz vor dem Zusammenbruch. In einer knappen halben Stunde würde der hier weinend und jammernd vor ihr sitzen und um Mitleid heischen. Vorher spielten sie immer gerne noch einmal den Coolen. Aber dann brach die Fassade restlos zusammen. Seine Sätze tropften an ihr ab.
Dann wurde Bruce Springsteens Gesang von einer Sondermeldung unterbrochen. Ein Schauer lief Ann Kathrin den Rücken herunter. Alles andere wurde mit einem Schlag unwichtig.
Leer. Geiseldrama in der Innenstadt. In Leer haben vier Bankräuber eine Sparkasse überfallen und sich in den Innenräumen verschanzt. Sie haben mehrere Menschen in ihrer Gewalt und einen Fluchtwagen gefordert. Die Polizei hat die Bank umstellt und die Umgebung großräumig abgesichert.
Ann Kathrin griff zu ihrer Dienstwaffe und überprüfte das Magazin. Tim Gerlach rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. Natürlich glaubte er, dass das etwas mit dem zu tun haben müsse, was er der Kommissarin gerade erzählt hatte.
Aber Ann Kathrin beachtete ihn gar nicht mehr. Sie ging an ihm vorbei zur Tür. Dort begegnete sie ihrem Chef. Ubbo Heide sah ihr an, dass etwas geschehen war, das ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Sie wirkte völlig verspannt und gleichzeitig auf einen einzigen Punkt konzentriert. „Hat er gestanden?“Ann Kathrin schüttelte den Kopf: „Nimm ihn in Gewahrsam. Ich setze das Verhör morgen fort.“
„Wo willst du hin, Ann?“, fragte Ubbo Heide. „Sie sind in Leer.“„Wer ist in Leer?“„Die Männer, die meinen Vater erschossen haben.“„Ein Banküberfall?“Ann Kathrin wollte einfach weiter, doch Ubbo Heide hielt sie fest. Sie machte sich los. Er lief neben ihr den Flur entlang. „Bitte, Ann-Kathrin! Du willst doch jetzt nicht dorthin fahren und ...“
„Ich habe die Akten genau studiert. Ich weiß über jede Sekunde Bescheid, über alles, was damals passiert ist. Die gleichen Fehler dürfen nicht noch mal passieren.“„Was hast du vor?“„Ich tu meinen Job.“
„Ich bitte dich, Ann, da sind Kollegen vor Ort! Wahrscheinlich ein Mobiles Einsatzkommando. Wir haben dort keinerlei Befugnisse. Wir haben hier einen Mordfall zu klären! Wir . . .“
Ann Kathrin ließ Ubbo Heide einfach stehen und lief die Treppe hinunter. Er konnte den Verdächtigen unmöglich länger alleine im Büro sitzen lassen, mit all den Unterlagen und Akten.
Als Ubbo Heide ins Büro kam, lief im Radio ein Kinderlied. Lotte das Seeungeheuer von Bettina Göschl. Tim Gerlach summte mit geschlossenen Augen mit. Der schönere Bereich seiner Kindheit stand ihm vor Augen.
Ann Kathrin Klaasen holte alles aus dem Twingo heraus. Während der Fahrt drehte sie von einem Nachrichtensender auf den nächsten, um keine Entwicklung in Leer zu verpassen. Es gab unterschiedliche Informationen. Bei Hit Radio Antenne waren es vier Geiseln, in NDR 2 schon sechs. FORTSETZUNG FOLGT