Anstand gefragt KOLUMNE
ANJA KOHL
Siemens streicht rund 3300 Stellen in Deutschland, schließt ganze Standorte: in Leipzig und Görlitz. Das Werk in Erfurt soll verkauft werden. Damit fällt die Hälfte der Jobs, die in der Kraftwerkssparte abgebaut werden, in die relativ strukturschwachen Gebiete im Osten der Republik.
Dies birgt neuen, politischen und sozialen Zündstoff. Auch vom Standort Offenbach könnte nicht viel übrig bleiben. Dessen Geschäfte sollen im Werk Erlangen gebündelt werden. Unterm Strich fällt jeder sechste Job in der Siemens-Kraftwerkssparte weg. Kritiker werfen dem Konzern, der gerade erst einen sechs Milliarden Euro Jahresgewinn berichtete, reine Profitgier vor.
Ganz so einfach ist es nicht. Der Stellenabbau ist die Folge der Energiewende, die mittlerweile weltweit vollzogen wird. Die Aufträge für GasKraftwerke sind eingebrochen. Insgesamt werden im Schnitt nur noch 100 Kraftwerke pro Jahr gebraucht, demgegenüber stehen Produktionskapazitäten von 400 Kraftwerken jährlich, nimmt man alle Hersteller zusammen. Solche Überkapazitäten sind auf Dauer für kein Unternehmen tragbar.
US-Konkurrent General Electric (GE) hat es noch härter getroffen. Er tat lange gar nichts, bei ihm tobt aktuell ein Hurrikan durch die Werke. Ganze Geschäftsfelder sollen verkauft werden. Die Dividende wird halbiert, erst zum dritten Mal überhaupt in der 125-jährigen Geschichte gekürzt. Der Börsenwert des USRiesen ist dieses Jahr um 115 Milliarden Dollar geschrumpft. General Electric ist ein Paradebeispiel für den Niedergang der US-Industrie, den wirtschaftlichen Aderlass, der unter anderem in die Ära Trump mündete.
Für Siemens-Mitarbeiter in Deutschland ist dies freilich kein Trost. Siemens-Chef Jo Kaeser hält den Radikalschnitt für nötig, damit der Konzern als Ganzes zukunftsfähig bleibt. So einfach aber ist auch das nicht. Effiziente Gaskraftwerke und Energiespeicher werden in Zukunft sehr wohl als Kerntechnologie gebraucht. Sie füllen die Lücke, wenn die Sonne mal nicht scheint, der Wind nicht weht. Um in diesem Feld schlagkräftig zu werden, müsste Siemens einen Teil seiner Milliarden investieren.
Siemens-Chef Kaeser hat sich anders entschieden: für einen prinzipiellen Strategieschwenk. Gut möglich, dass man bei Siemens in ein paar Jahren der Kraftwerkssparte hinterher weint. Der Konzern ist nun in der Pflicht für tausende Mitarbeiter, die vom Stellenabbau betroffen sind, sozialverträgliche Lösungen zu finden.
So viel Anstand muss sich ein Milliarden-Gigant wie Siemens leisten! Der Unfrieden, der sonst im Konzern erwachen dürfte, hätte sicher das Potenzial für Siemens wichtige Zukunftsprojekte zu gefährden.