Nein schlägt ein wie Bombe
Union in Schockstarre – Grüne wütend über Abgang
Der Bundespräsident las der politischen Elite die Leviten. Er wies auf die Dramatik des historischen Tags hin.
BERLIN – Um kurz nach halb drei Uhr öffnet sich die mächtige Flügeltür im LanghansSaal von Schloss Bellevue, Frank-Walter Steinmeier tritt ein, schreitet zum Rednerpult und liest den Parteien die Leviten. Neuwahlen nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierung? Der Bundespräsident denkt gar nicht daran, redet den politischen Akteuren ins Gewissen, appelliert an die Vernunft. „Wer sich in Wahlen um politische Verantwortung bewirbt, der darf sich nicht drücken, wenn man sie in den Händen hält“, mahnt Steinmeier. Er erwarte von allen Gesprächsbereitschaft, um eine Regierungsbildung möglich zumachen.
Acht Wochen sind seit der Bundestagswahl vergangen, die Sondierungen für eine Regierungsbildung seinen „bisher ohne Ergebnis“geblieben, erklärt der Bundespräsident in seiner kurzen Ansprache. Man stehe vor einer Situation, die es in der Geschichte der
Bundesrepublik noch nicht gegeben habe, macht er den Ernst der Lage und die Dramatik an diesem historischen Tag deutlich.
Die Liberalen hatten kurz vor Mitternacht die JamaikaVerhandlungen platzen lassen und stehen als Regierungspartner nicht mehr zur Verfügung. Die Sozialdemokraten erteilen einer Großen Koalition mit der Union erneut eine Absage und fordern, der Wähler müsse die schwierige Lage neu beurteilen – allen Appellen des Bundespräsidenten zumTrotz. „Wir gehen davon aus, dass das zu Neuwahlen führen wird“, erklärt CSU-Landesgruppenchef Ale-
xander Dobrindt. Sonntagnacht, 23.50 Uhr, der Moment der Entscheidung: Christian Lindner kommt aus der baden-württembergischen Landesvertretung, dem Schauplatz der letzten JamaikaSchlacht. Angespannt, erschöpft, umrahmt von den FDP-Unterhändlern, spricht er in die Kameras, einen Zettel in der Hand, doch den Text kennt er auswendig: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“Der Satz schlägt ein wie eine Bombe. Jamaika ist geplatzt, Bundeskanzlerin Merkel ist gescheitert, Deutschland steht vor einer ungewissen politischen Zukunft. Während Lindner
draußen in der Kälte zu den Reportern spricht, stehen die Delegationen von Grünen, CDU und CSU im Foyer mit gefrorenen Mienen vor den TV-Bildschirmen. Schockstarre macht sich breit, Unglauben undWut über „diesen Abgang“, sagt Grünen-Unterhändler Jürgen Trittin.
Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer, gezeichnet von Anstrengung und Niederlage, treten um kurz nach 1 Uhr vor die Presse. Die Union habe geglaubt, man sei auf dem Weg zur Einigung gewesen, so die Kanzlerin, und spricht von einem „wirklich, ich würde fast schon sagen historischen Tag“.