Historiker heben vergessenen Schatz
Uni Oldenburg erhält für Projekt „Prize Papers“von Bund und Ländern 9,7 Millionen Euro
Die gefundenen „Prize Papers“geben neue Einblicke auf die „Frühe Neuzeit“. Sie stammen aus der Zeit der Seekriege zwischen 1600 bis 1817.
OLDENBURG/LONDON < Es muss sich wie das Heben eines lange verloren geglaubten Schatzes angefühlt haben, als die Historikerin und Professorin für die Geschichte der „Frühen Neuzeit“der Universität Oldenburg, Prof. Dr. Dagmar Freist, zusammen mit ihrem Team 2012 durch Zufall auf die „Prize Papers“(deutsch: Prisenpapiere) stieß. „Als wir die ersten Boxen aufgemacht haben, waren wir völlig fasziniert“, sagt Freist, die für ein europäisch vernetztes Forschungsprojekt damals in London weilte.
Zu dem Team, das 2012 die Dokumente mit als erstes untersucht und anschließend bereits wissenschaftliche Aufsätze verfasst hatte, gehörten Christina Beckers, Annika Raapke, Lucas Haasis und Jessica Cronshagen.
VERGESSENE DOKUMENTE
Die Prisenpapiere – darunter ungeöffnete Briefe, Tagebücher, Journale, Logbücher, Verwaltungsakten, Frachtlisten und weitere Dokumente – lagern in den Britischen Nationalarchiven in London und stammen aus der Zeit der Seekriege (1600 bis 1817). Bei Schiffskaperungen sicherten die Besatzer damals das gesamte Schriftgut an Bord, um vor Gericht beweisen zu können, dass das gekaperte Schiff und seine Waren tatsächlich feindlich waren. Nach den abgeschlossenen Prozessen vor dem Londoner High Court of Admiralty wurden die Papiere gemeinsam mit den Gerichtsakten im Tower gelagert – und schließlich vergessen. „Das Spannende ist, dass wir auf Material treffen, was einzigartig ist“, erklärt Freist. „Es sind Zufallsüberlieferungen, die nie durch eine ordnende Hand gegangen sind.“Der Bestand umfasst 4000 Boxen, mehr als dreiMillionen Dokumente aus 28000 Kaperungen von niederländischen, portugiesischen, italienischen, französischen und deutschen Schiffen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckten Archivare den völlig unsortierten Bestand, ohne
jedoch sein Potenzial zu erkennen. In den 80er Jahren machten sich dann niederländische Historiker an die „Prize Papers“, ließen aber schnell wieder von ihnen ab. c PROJEKT „PRIZE PAPERS“
Und nun übernimmt die Universität Oldenburg ab 2018 die wissenschaftliche Durchführung für ein Projekt im größten geisteswissenschaftlichen Forschungsprogramm Deutschlands: Das Projekt „Prize Papers“ist in das von Bund und Ländern finanzierte Akademienprogramm aufgenommen worden. Unter Leitung der Oldenburger Historikerin Freist wird das Forschungsvorhaben im Januar 2018 in der Trägerschaft der Akademie für Wissenschaften zu Göttingen starten.
Ziel ist das Erfassen, Digitalisieren und Veröffentlichen der sogenannten „Prize Papers“. Das Fördervolumen liegt bei 9,7 Millionen Euro, bei einer Laufzeit von 20 Jahren. „Die Aufnahme in das Akademienprogramm kommt einem Ritterschlag gleich. Ich freue mich sehr, dass die intensive Vorarbeit unserer Historikerinnen und Historiker diese außerordentliche Würdigung erfährt und das Projekt nun langfristig gesichert ist“, sagt Universitätspräsident Prof. Dr. Dr. Hans Michael Piper. Projektleiterin Freist ergänzt: „Die ,Prize Papers’ sind ein einmaliger historischer Bestand: Sie sind nahezu un- berührt und können uns viel über das tatsächliche Leben der Menschen in der ,Frühen Neuzeit’ verraten. Als Historikerin empfinde ich es als besondere Ehre, diesen Schatz gemeinsam mit meinem Team heben zu dürfen.“
Zunächst wurde und wird aber zuallererst Grundlagenforschung betrieben. Die Dokumente erhalten eine archivarische Beschreibung (Ort, Datum, Personen etc.). Anschließend wird jedes Dokument eingescannt und erhält eine eigene Signatur. Danach erfolgt die Tiefenerschließung, sprich ein genauerer Blick auf die Dokumente. Am Ende entsteht so eine digitale Datenbank auf Englisch, die für die Forschung und Öffentlichkeit kostenfrei zugänglich ist.
NEUER BLICKWINKEL
Durch die thematische Breite der „Prize Papers“würde die Geschichtsforschung der „Frühen Neuzeit“neue Ansatzpunkte erhalten, erklärt Freist. „Wir bekommen dadurch einen Einblick auf die Wahrnehmung dieser Zeit aus der Sicht unterschiedlicher sozialer Gruppen.“Themen wie Familien- und Migrationsgeschichte, aber auch Regionalgeschichte sind ein Teil davon. Schließlich stammen viele der Dokumente beispielsweise aus Norden, Emden oder auch Bremen.
„Vor allem die Familiengeschichte ist spannend“, sagt die Historikerin. So wären auf den Schiffen, neben der Besatzung, auch Passagiere an Bord gewesen, darunter oftmals auch Kinder, die allein und aus den verschiedensten Ecken der Welt zu Verwandten nach Europa reisten. Die „Prize Papers“würden in diesem Zusammenhang auch einen Blick auf die europäische Migrationsgeschichte und ihre Einzelschicksale werfen. „Gesellschaften waren schon immer von Migration geprägt“, erklärt Freist. Was es eigentlich heißt, in die Fremde zu gehen, sei dabei eine interessante und spannende Fragestellung, die Parallelen zur heutigen Zeit aufwerfen würde. Aber auch über den Handel zu dieser Zeit erfahren die Historiker aufschlussreiche Dinge. „Es ist interessant, was sich unter dem offiziellen Warenhandel alles hin und her geschickt wurde“, sagt Freist. Musikinstrumente, Medikamente, Alltagsgegenstände sowie Stoffe und Kleidung und vielesmehr wurden an Verwandte auf diese Art versandt. c STUDENTEN PROFITIEREN
Mithilfe der „Prize Papers“können aber auch andere wissenschaftliche Disziplinen wie die Klimaforschung, Medizingeschichte, Geografie sowie Natur- und Sprachwissenschaften neue Erkenntnisse sammeln. „Es wird viel neue Forschung in diesen Bereichen entstehen“, ist sich die Historikerin sicher.
Aber auch die Studenten der Uni Oldenburg sollen von dem Fund profitieren. So wurde die Forschung zu den Prisenpapieren bereits in die Lehre aufgenommen, neue Module im Bachelor- und Masterstudiengang sind entstanden. „Das werden wir noch intensivieren“, sagt Freist.
Die Aufnahme ins Akademienprogramm eröffnet dem Projekt nun neue Möglichkeiten: Ein festes, dreiköpfiges Wissenschaftler-Team sowie neun temporär beteiligte Nachwuchswissenschaftler, Projektfotografen und Studierende werden in den kommenden 20 Jahren die „Prize Papers“sortieren, digitalisieren und in der Datenbank für Interessierte zugänglich machen.
Mehr Infos unter www.prizepapers.de