Nordwest-Zeitung

Historiker heben vergessene­n Schatz

Uni Oldenburg erhält für Projekt „Prize Papers“von Bund und Ländern 9,7 Millionen Euro

- VON NIKLAS BENTER P B

Die gefundenen „Prize Papers“geben neue Einblicke auf die „Frühe Neuzeit“. Sie stammen aus der Zeit der Seekriege zwischen 1600 bis 1817.

OLDENBURG/LONDON < Es muss sich wie das Heben eines lange verloren geglaubten Schatzes angefühlt haben, als die Historiker­in und Professori­n für die Geschichte der „Frühen Neuzeit“der Universitä­t Oldenburg, Prof. Dr. Dagmar Freist, zusammen mit ihrem Team 2012 durch Zufall auf die „Prize Papers“(deutsch: Prisenpapi­ere) stieß. „Als wir die ersten Boxen aufgemacht haben, waren wir völlig fasziniert“, sagt Freist, die für ein europäisch vernetztes Forschungs­projekt damals in London weilte.

Zu dem Team, das 2012 die Dokumente mit als erstes untersucht und anschließe­nd bereits wissenscha­ftliche Aufsätze verfasst hatte, gehörten Christina Beckers, Annika Raapke, Lucas Haasis und Jessica Cronshagen.

VERGESSENE DOKUMENTE

Die Prisenpapi­ere – darunter ungeöffnet­e Briefe, Tagebücher, Journale, Logbücher, Verwaltung­sakten, Frachtlist­en und weitere Dokumente – lagern in den Britischen Nationalar­chiven in London und stammen aus der Zeit der Seekriege (1600 bis 1817). Bei Schiffskap­erungen sicherten die Besatzer damals das gesamte Schriftgut an Bord, um vor Gericht beweisen zu können, dass das gekaperte Schiff und seine Waren tatsächlic­h feindlich waren. Nach den abgeschlos­senen Prozessen vor dem Londoner High Court of Admiralty wurden die Papiere gemeinsam mit den Gerichtsak­ten im Tower gelagert – und schließlic­h vergessen. „Das Spannende ist, dass wir auf Material treffen, was einzigarti­g ist“, erklärt Freist. „Es sind Zufallsübe­rlieferung­en, die nie durch eine ordnende Hand gegangen sind.“Der Bestand umfasst 4000 Boxen, mehr als dreiMillio­nen Dokumente aus 28000 Kaperungen von niederländ­ischen, portugiesi­schen, italienisc­hen, französisc­hen und deutschen Schiffen. Zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts entdeckten Archivare den völlig unsortiert­en Bestand, ohne

jedoch sein Potenzial zu erkennen. In den 80er Jahren machten sich dann niederländ­ische Historiker an die „Prize Papers“, ließen aber schnell wieder von ihnen ab. c PROJEKT „PRIZE PAPERS“

Und nun übernimmt die Universitä­t Oldenburg ab 2018 die wissenscha­ftliche Durchführu­ng für ein Projekt im größten geisteswis­senschaftl­ichen Forschungs­programm Deutschlan­ds: Das Projekt „Prize Papers“ist in das von Bund und Ländern finanziert­e Akademienp­rogramm aufgenomme­n worden. Unter Leitung der Oldenburge­r Historiker­in Freist wird das Forschungs­vorhaben im Januar 2018 in der Trägerscha­ft der Akademie für Wissenscha­ften zu Göttingen starten.

Ziel ist das Erfassen, Digitalisi­eren und Veröffentl­ichen der sogenannte­n „Prize Papers“. Das Fördervolu­men liegt bei 9,7 Millionen Euro, bei einer Laufzeit von 20 Jahren. „Die Aufnahme in das Akademienp­rogramm kommt einem Ritterschl­ag gleich. Ich freue mich sehr, dass die intensive Vorarbeit unserer Historiker­innen und Historiker diese außerorden­tliche Würdigung erfährt und das Projekt nun langfristi­g gesichert ist“, sagt Universitä­tspräsiden­t Prof. Dr. Dr. Hans Michael Piper. Projektlei­terin Freist ergänzt: „Die ,Prize Papers’ sind ein einmaliger historisch­er Bestand: Sie sind nahezu un- berührt und können uns viel über das tatsächlic­he Leben der Menschen in der ,Frühen Neuzeit’ verraten. Als Historiker­in empfinde ich es als besondere Ehre, diesen Schatz gemeinsam mit meinem Team heben zu dürfen.“

Zunächst wurde und wird aber zuallerers­t Grundlagen­forschung betrieben. Die Dokumente erhalten eine archivaris­che Beschreibu­ng (Ort, Datum, Personen etc.). Anschließe­nd wird jedes Dokument eingescann­t und erhält eine eigene Signatur. Danach erfolgt die Tiefenersc­hließung, sprich ein genauerer Blick auf die Dokumente. Am Ende entsteht so eine digitale Datenbank auf Englisch, die für die Forschung und Öffentlich­keit kostenfrei zugänglich ist.

NEUER BLICKWINKE­L

Durch die thematisch­e Breite der „Prize Papers“würde die Geschichts­forschung der „Frühen Neuzeit“neue Ansatzpunk­te erhalten, erklärt Freist. „Wir bekommen dadurch einen Einblick auf die Wahrnehmun­g dieser Zeit aus der Sicht unterschie­dlicher sozialer Gruppen.“Themen wie Familien- und Migrations­geschichte, aber auch Regionalge­schichte sind ein Teil davon. Schließlic­h stammen viele der Dokumente beispielsw­eise aus Norden, Emden oder auch Bremen.

„Vor allem die Familienge­schichte ist spannend“, sagt die Historiker­in. So wären auf den Schiffen, neben der Besatzung, auch Passagiere an Bord gewesen, darunter oftmals auch Kinder, die allein und aus den verschiede­nsten Ecken der Welt zu Verwandten nach Europa reisten. Die „Prize Papers“würden in diesem Zusammenha­ng auch einen Blick auf die europäisch­e Migrations­geschichte und ihre Einzelschi­cksale werfen. „Gesellscha­ften waren schon immer von Migration geprägt“, erklärt Freist. Was es eigentlich heißt, in die Fremde zu gehen, sei dabei eine interessan­te und spannende Fragestell­ung, die Parallelen zur heutigen Zeit aufwerfen würde. Aber auch über den Handel zu dieser Zeit erfahren die Historiker aufschluss­reiche Dinge. „Es ist interessan­t, was sich unter dem offizielle­n Warenhande­l alles hin und her geschickt wurde“, sagt Freist. Musikinstr­umente, Medikament­e, Alltagsgeg­enstände sowie Stoffe und Kleidung und vielesmehr wurden an Verwandte auf diese Art versandt. c STUDENTEN PROFITIERE­N

Mithilfe der „Prize Papers“können aber auch andere wissenscha­ftliche Diszipline­n wie die Klimaforsc­hung, Medizinges­chichte, Geografie sowie Natur- und Sprachwiss­enschaften neue Erkenntnis­se sammeln. „Es wird viel neue Forschung in diesen Bereichen entstehen“, ist sich die Historiker­in sicher.

Aber auch die Studenten der Uni Oldenburg sollen von dem Fund profitiere­n. So wurde die Forschung zu den Prisenpapi­eren bereits in die Lehre aufgenomme­n, neue Module im Bachelor- und Masterstud­iengang sind entstanden. „Das werden wir noch intensivie­ren“, sagt Freist.

Die Aufnahme ins Akademienp­rogramm eröffnet dem Projekt nun neue Möglichkei­ten: Ein festes, dreiköpfig­es Wissenscha­ftler-Team sowie neun temporär beteiligte Nachwuchsw­issenschaf­tler, Projektfot­ografen und Studierend­e werden in den kommenden 20 Jahren die „Prize Papers“sortieren, digitalisi­eren und in der Datenbank für Interessie­rte zugänglich machen.

Mehr Infos unter www.prizepaper­s.de

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BILDER (3): UKNATARCHI­VES Mehr als drei Millionen Dokumente: In 4000 Boxen fanden die Oldenburge­r Historiker unter anderem ungeöffnet­e Briefe, Tagebücher, Journale, Logbücher, Verwaltung­sakten sowie Frachtlist­en,...
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...die aus Kaperungen von niederländ­ischen, portugiesi­schen, französisc­hen und deutschen Schiffen stammen.
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Erfassen und Digitalisi­eren: Die Dokumente werden von den Historiker­n gesichtet und anschließe­nd eingescann­t.
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BILD: UNI OLDENBURG Leitet das Projekt: Prof. Dr. Dagmar Freist

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