Nach Jamaika-Debakel: Steinmeier mahnt Parteien
Merkel tritt im Fall von Neuwahl erneut an Bundespräsident hat jetzt die Schlüsselrolle Einstimmiger Beschluss: SPD will Neuwahlen
Die FDP hatte die Jamaika-Sondierungen platzen lassen – und Merkel damit in die Krise gestürzt.
BERLIN – Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen hat Bundespräsident FrankWalter Steinmeier die Parteien zu einem erneuten Anlauf für eine Regierungsbildung aufgerufen. „Wer sich inWahlen um politische Verantwortung bewirbt, der darf sich nicht drücken, wenn man sie in den Händen hält“, sagte Steinmeier am Montag nach einem Treffen mit der geschäftsführenden Kanzlerin Angela Merkel (CDU).
Die SPD lehnt den Eintritt in eine Große Koalition aber auch nach dem Jamaika-Aus ab. Sollten die Sozialdemokraten dabei bleiben, gäbe es noch zwei Optionen: eine Minderheitsregierung unter Unions-Führung oder eine Neuwahl.
Die FDP hatte die JamaikaSondierungen mit Union und Grünen am späten Sonntagabend überraschend abgebrochen und Merkel damit in die schwerste Krise ihrer zwölfjährigen Amtszeit gestürzt.
Dem Bundespräsidenten kommt in dieser heiklen und in der Geschichte der Bundesrepublik bisher einmaligen Lage eine Schlüsselrolle zu. Er muss dem Bundestag einen
Kandidaten für die Kanzlerwahl vorschlagen. Denkbar wäre eine Minderheitsregierung unter Führung Merkels, etwa mit den Grünen oder der
FDP. Merkel bräuchte dann aber bei Abstimmungen einige Dutzend Stimmen aus anderen Fraktionen.
Weiteres Szenario: Eine erneute Bundestagswahl. Der Weg dorthin ist verfassungsrechtlich aber nicht einfach. Denn eine Neuwahl wäre erst nach einer Kanzlerwahl möglich. Steinmeier müsste zunächst jemanden für das Amt des Kanzlers vorschlagen. Wäre dies Merkel und würde sie im dritten Wahlgang nur mit relativer und nicht mit abso-
luter Mehrheit gewählt, könnte der Bundespräsident sie zur Kanzlerin einer Minderheitsregierung ernennen – er könnte aber auch den Bundestag auflösen. Innerhalb von 60 Tagen müsste es dann eine Neuwahl geben.
Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel sieht nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen keinen Anlass für einen Rückzug. Falls es zu Neuwahlen kommen sollte, sei sie bereit, ihre Partei erneut in den Wahlkampf zu führen, sagte sie am Montag.
In der CDU setzt man darauf, dass der frühere SPDAußenminister Steinmeier Einfluss auf SPD-Chef Martin Schulz nehmen könnte, um ihn doch noch zu Gesprächen mit Merkel über die Bildung einer erneuten Großen Koalition zu bewegen. www.bit.ly/NWZWill
Kanzlerin
Angela Merkel ohne neue Regierung – das ist eine historische Situation. Es waren die wohl schwersten Verhandlungen über eine Regierungsbildung. Zum zweiten Mal in ihrer zwölfjährigen Amtszeit scheint die Kanzlerin zu wanken. Einmal mehr macht bei der Opposition das Wort von der Kanzlerinnendämmerung die Rede. Schließlich ist das überraschende Ende der Sondierungen auch Merkels Scheitern.
Die CDU-Chefin wollte das Bündnis von Union, FDP und Grünen, nachdem die SPD sich für den Weg in die Opposition entschieden hatte. Jetzt steht sie mit leeren Händen da, musste Montag zum Krisengespräch ins Schloss Bellevue, um mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Auswegen aus der festgefahrenen Situation zu suchen.
Hat Merkel einen Plan B? Kanzlerin einer Minderheitsregierung – eine Perspektive, die in der Union alles andere als attraktiv erscheint. Merkel schließt diese Option klar aus. Deutschland brauche stabile Verhältnisse.
Kanzlerinnendämmerung? CDU-Generalsekretär Peter Tauber winkt ab. Merkel arbeite weiterhin „mit viel Verve für unser Land“, versichert er. Und CDU-Vorstand Mike Mohring sieht die Kanzlerin als Gewinnerin des Sondierungspokers. CDU und CSU seien nach dem erbitterten Streit um die Flüchtlings-
politik jetzt wieder enger zusammengerückt.
Im Falle von Neuwahlen würde die Union erneut mit Merkel als Kanzlerkandidatin antreten, in der Hoffnung, an die FDP verlorene Stimmen zurückzugewinnen und im zweiten Anlauf eine neue Regierung stellen zu können.
Doch noch immer steht die von Merkel angekündigte gründliche Wahlanalyse aus. Dabei hatte die CDU-Chefin dies angekündigt. Merkel steht unter Druck. In der CDU rumort es, nachdemdie Partei bei der Bundestagswahl das schlechteste Ergebnis der Nachkriegsgeschichte eingefahren und am 24. September nur noch 32,9 Prozent erreicht hatte und damit fast zehn Prozentpunkte weniger als vor vier Jahren, als CDU und CSU knapp die absolute Mehrheit verpasst hatten. „Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssten“, hatte die Kanzlerin unmittelbar nach der Wahl erklärt und damit Empörung ausgelöst.