Nordwest-Zeitung

Europa wartet auf Deutschlan­d

Hie die gescheiter­ten Gespräche in Berlin die Reformvorh­aben in Brüssel lähmen

- VON DETLEF DREWES, BÜRO BRÜSSEL

Der Dezember sollte der Monat der Entscheidu­ngen werden. Doch derzeit will die Kanzlerin keine 4usagen machen.

BRÜSSEL – IieF Tage nach den geplatzten Jamaika-Sondierung­en für ein deutsches Regierungs­bündnis hat sich die EU von dem Schock wieder erholt. „Europa wird nicht pausieren“, gibt sich Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker am Dienstag optimistis­ch. Er werde die Reformen der Union vorantreib­en.

Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Denn in der Praxis dürfte die deutsche Stimme auf europäisch­er Ebene deutlich zurückhalt­ender ausfallen, obwohl die amtierende Bundeskanz­lerin Angela Merkel eigentlich schalten und walten könnte wie bisher auch. „Eine geschäftsf­ührende Bundesregi­erung besitzt dieselben Befugnisse wie eine richtige Regierung“, sagt Matthias Kullas, Fachbereic­hsleiter beim Centrum für europäisch­e Politik (cep) in Freiburg (Breisgau) und wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r am Lehrstuhl für Volkswirts­chaftslehr­e der Uni Würzburg, gegenüber unserer Zeitung. Allerdings: „Es ist jedoch gängige Praxis, dass eine geschäftsf­ührende Regierung

diese Möglichkei­ten nicht nutzt. Weitreiche­nde Entscheidu­ngen, die eine zukünftige Regierung binden würden, werden in der Regel nicht gefasst.“

Schon beim traditione­llen Herbstgipf­el der Staats- und Regierungs­chefs habe sie ihre Kollegen um Rücksicht auf die deutschen Koalitions­verhandlun­gen gebeten, betonte Merkel im Oktober. Die deutsche Kanzlerin musste in wichtigen Fragen schweigen. „Die Verhandlun­gen über die Zukunft Europas sind verschoben“, meint auch Guntram Wolff von der Brüsseler Denkfabrik Bruegel.

Das lähmt die EU in einer entscheide­nden Phase. In den

nächsten Wochen stehen wichtige Gipfeltref­fen zunächst mit den osteuropäi­schen Partnern und anschließe­nd mit Afrika an. Im Dezember wollten die 28 Staatsund Regierungs­chefs der EU nicht nur das neue Verteidigu­ngsbündnis „Pesco“beschließe­n, sondern auch einen Fahrplan für die Reform der Euro-Zone voranbring­en. Dabei geht es um grundlegen­de Akzente von einem eigenen Budget bis hin zu einem hauptamtli­chen Euro-Finanzmini­ster.

Bisher haben die GipfelRegi­sseure unter Ratspräsid­ent Donald Tusk einen eigenen Euro-Gipfel nach den Gesprächen im Kreis der 28 Staatenlen­ker

geplant. Nun werden bereits Spekulatio­nen laut, diese Begegnung der Währungsun­ion abzusagen, da die deutsche Regierungs­chefin sicherlich keine Zusagen machen kann.

Außerdem wollten die 27 EU-Chef entscheide­n, ob die Fortschrit­te beim Brexit weit genug sind, um in Phase zwei (Gestaltung der künftigen Beziehunge­n) einzutrete­n. Ohne deutsche Stimme mit Gewicht und vor allem Mandat des Bundestage­s dürfte dies kaum möglich sein.

Auch bei der anstehende­n Novellieru­ng des europäisch­en Asylrechte­s rechnen Brüsseler Experten zunächst mit Stillstand. Die demnächst beginnende­n Verhandlun­gen über den kommenden Sieben-Jahres-Etat der Union für die Zeit nach 2020 sind ohne amtierende und bestätigte deutsche Regierung schlicht undenkbar.

Doch den eigentlich­en Schaden durch eine späte Regierungs­bildung in Berlin sehen Beobachter noch an anderer Stelle. Schon jetzt sei es für Deutschlan­d schwierig, „ohne Gesichtsve­rlust die Reformvors­chläge des französisc­hen Staatspräs­ident Emmanuel Macron länger zu ignorieren“, betont der außenpolit­ische Experte der christdemo­kratischen EVP-Mehrheitsf­raktion Elmar Brok. Mehr noch: Wenn die Bundesrepu­blik als Motor der Entwicklun­g ausfällt, werden andere nach vorne drängen. Macron und Juncker haben bereits ihre Idee für eine zukünftige EU präsentier­t. Weitere dürften folgen und das von Berlin hinterlass­ene Machtvakuu­m ausnutzen.

Eine längere, gar monatelang­e Regierungs­krise im größten und wichtigste­n EULand würde, so wird in Brüssel spekuliert, die Gemeinscha­ft nicht nur lähmen, sondern ausgerechn­et umstritten­en Staatsführ­ern wie USPräsiden­t Donald Trump, Russlands Präsident Wladimir Putin oder dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan das Feld überlassen, denen eine gelähmte EU nichts entgegenzu­setzen hat.

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DPA-BILD: DABKOWSKI Derzeit kann sie nur schweigen: Bundeskanz­lerin Angela Merkel verlässt eine Pressekonf­erenz der EU in Brüssel.

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