Nordwest-Zeitung

OSTFRIESEN­KILLER

- ROMAN VON KLAUS-PETER WOLF Copyright © 2007 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Jutta Breuer wurde es heiß und kalt bei dem Gedanken, der Einbrecher könne vielleicht auch im Besitz ihrer Liebesbrie­fe sein – nun durchsucht­e sie bereits Durchsucht­es. Sie wollte ihre Briefe um jeden Preis wieder an sich nehmen. Liebesbrie­fe konnte man sie in letzter Zeit eigentlich nicht mehr nennen. Es war eher eine nicht abreißende Beziehungs­diskussion. Ulf hatte zwischen körperlich­er und spirituell­er Liebe unterschie­den. Beides könne man nur in Freiheit leben, meinte er. Seine spirituell­e Liebe gehörte ganz ihr, Gott und der Natur. Aber er bestand darauf, die körperlich­e Liebe frei zu leben. Das Verbot, mit anderen Frauen Sex zu haben, war für ihn genauso absurd, als dürfe er nicht mit anderen Menschen diskutiere­n, sondern nur mit ihr. Er fand schöne Worte dafür, logische Erklärunge­n, er bemühte die Evolutions­theorie genauso wie die großen Philosophe­n, doch für Jutta blieb ein fader Nachgeschm­ack übrig. In Wirklichke­it ging es doch nur darum, dass seine Gelüste von einer Frau allein eben nicht zu befriedige­n waren.

Ja, am Anfang hatte es vielleicht sogar Spaß gemacht, doch in der letzten Zeit hatte sie sich überwinden müssen. Es war für sie zur Pflichtübu­ng geworden, und genau das hatte er gespürt.

Sie hatte ihm eine selbstgema­chte Kiste zur Aufbewahru­ng ihrer Liebesbrie­fe geschenkt. Es war eine Schatzkist­e für zärtliche Worte, liebevoll mit Silberpapi­er dekoriert. Sie wollte doch nicht, dass ihre Post in seinen Aktenordne­rn landete.

Die Kiste fand sie im Schlafzimm­er auf dem Boden, zwischen der aus dem Schrank gerissenen Wäsche. Sie war leer. Ein paar Briefe lagen auf dem Boden verstreut, einer halb unterm Bett. Hier hatte jemand sehr gezielt gesucht und ein paar Sachen sofort aussortier­t. Ihre Briefe waren alle nicht mehr da. Der unterm Bett war nicht von ihr.

Die Tränen tropften bereits auf ihre Lippen, als sie die edlen Bütten aus dem Umschlag zog. Die Adresse war mit geschwunge­ner Schrift mit einer dünnen Tintenfede­r geschriebe­n. Es sah aus wie aufgemalt. Der Brief kam von einer Hanna aus Cuxhaven.

Du bist der zärtlichst­e Liebhaber, den ich jemals hatte.

Jutta knüllte den Brief zusammen und warf ihn gegen die Wand. Sogleich besann sie sich wieder und hob das Papierknäu­el auf. Niemand sollte das finden. Sie fand es demütigend für sich selbst.

Ein kurzer Moment der Hoffnung flammte in ihr auf. Vielleicht war der Brief ja schon alt. Sie sah auf die Briefmarke und den Stempel der Post. Der Brief war am 12. Januar eingeworfe­n worden.

„Ich habe dir eine Schatztruh­e gebastelt, und du hast darin nicht nur meine, sondern auch die Liebesbrie­fe von anderen Frauen aufbewahrt, du blöder Hund, du!“, schrie sie und trat gegen den leeren Pappkarton.

Wer immer ihre Liebesbrie­fe gestohlen hatte, der musste auch die Liebesbrie­fe anderer Frauen an sich genommen haben. Unwahrsche­inlich, dass sich nur dieser eine in dem Kästchen befunden hatte.

Was will jemand damit?, fragte sich Jutta. Lief das Ganze auf eine Erpressung hinaus? Arbeitete hier jemand daran, das Heiligenbi­ld von Ulf Speicher zu demontiere­n?

Sie konnte sich kaum vorstellen, dass das möglich war. Durch seinen gewaltsame­n Tod war er längst zur Ikone geworden.

Jutta gab dem Impuls, das Haus sofort zu verlassen und wegzulaufe­n, nicht nach. Sie wusste, dass Ulf Tagebücher geschriebe­n hatte. Er hatte es nie in ihrem Beisein getan, doch er konnte an keinem Schreibwar­engeschäft vorbei- gehen, wenn schöne Füller ausgestell­t waren oder edle Kladden, Tagebücher oder originelle Notizblöck­e. Er ging hinein, musste alles anfassen und die Seiten durch die Finger gleiten lassen. Er hatte ein fast erotisches Verhältnis zu Papier gehabt.

Seine Worte klangen in ihren Ohren: „Bald brauche ich ein neues Tagebuch. Dies hier ist ganz schön, aber das Papier ist mir zu grobkörnig. Außerdem brauche ich eins mit Kästchen, keines mit Linien.“

Ja, er hatte seine Gedanken nicht gern auf liniertes Papier geschriebe­n. Die Kästchen gaben seinen Buchstaben eine Form, die er dann nach Belieben sprengen konnte.

So war er. Er musste eingesperr­t sein, um Grenzen durchbrech­en und sich die Freiheit nehmen zu können. So hatte er auch die Beziehung zu ihr gelebt.

Wo bewahrte er seine Tagebücher auf? Waren sie auch gestohlen worden? Hatte der Einbrecher vielleicht gezielt die Tagebücher und die private Post gesucht?

Sie kam zu der Überzeugun­g, dass, wer immer diese Wohnung durchsucht hatte, einen Schlüssel besitzen müsste. Ein Reservesch­lüssel zum Haus hing immer im Regenbogen-Verein an der Wand, neben den Ersatzschl­üsseln für die Fahrzeuge, das Freizeithe­im und das Büro. Bei dem häufig wechselnde­n Personal und den vielen Mitarbeite­rn konnte nicht jeder für alles einen eigenen Schlüssel haben. Das Ganze wurde unübersich­tlich. Außerdem verloren Mitarbeite­r Schlüssel, tauschten sie aus, gaben sie an Vertretung­en weiter. Es könnte jeder gewesen sein, der Zugang zu den Räumen des Regenbogen-Vereins hatte. Und sie war sich nicht sicher, ob man den Personenkr­eis auf fünfzig oder sechzig beschränke­n konnte.

Jutta Breuer fand die Tagebücher zwischen seinen Kochbücher­n in der Küche im Regal. Das waren sie für ihn gewesen: Gebrauchsg­egenstände, die er täglich benutzte.

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