OSTFRIESENKILLER
Jutta Breuer wurde es heiß und kalt bei dem Gedanken, der Einbrecher könne vielleicht auch im Besitz ihrer Liebesbriefe sein – nun durchsuchte sie bereits Durchsuchtes. Sie wollte ihre Briefe um jeden Preis wieder an sich nehmen. Liebesbriefe konnte man sie in letzter Zeit eigentlich nicht mehr nennen. Es war eher eine nicht abreißende Beziehungsdiskussion. Ulf hatte zwischen körperlicher und spiritueller Liebe unterschieden. Beides könne man nur in Freiheit leben, meinte er. Seine spirituelle Liebe gehörte ganz ihr, Gott und der Natur. Aber er bestand darauf, die körperliche Liebe frei zu leben. Das Verbot, mit anderen Frauen Sex zu haben, war für ihn genauso absurd, als dürfe er nicht mit anderen Menschen diskutieren, sondern nur mit ihr. Er fand schöne Worte dafür, logische Erklärungen, er bemühte die Evolutionstheorie genauso wie die großen Philosophen, doch für Jutta blieb ein fader Nachgeschmack übrig. In Wirklichkeit ging es doch nur darum, dass seine Gelüste von einer Frau allein eben nicht zu befriedigen waren.
Ja, am Anfang hatte es vielleicht sogar Spaß gemacht, doch in der letzten Zeit hatte sie sich überwinden müssen. Es war für sie zur Pflichtübung geworden, und genau das hatte er gespürt.
Sie hatte ihm eine selbstgemachte Kiste zur Aufbewahrung ihrer Liebesbriefe geschenkt. Es war eine Schatzkiste für zärtliche Worte, liebevoll mit Silberpapier dekoriert. Sie wollte doch nicht, dass ihre Post in seinen Aktenordnern landete.
Die Kiste fand sie im Schlafzimmer auf dem Boden, zwischen der aus dem Schrank gerissenen Wäsche. Sie war leer. Ein paar Briefe lagen auf dem Boden verstreut, einer halb unterm Bett. Hier hatte jemand sehr gezielt gesucht und ein paar Sachen sofort aussortiert. Ihre Briefe waren alle nicht mehr da. Der unterm Bett war nicht von ihr.
Die Tränen tropften bereits auf ihre Lippen, als sie die edlen Bütten aus dem Umschlag zog. Die Adresse war mit geschwungener Schrift mit einer dünnen Tintenfeder geschrieben. Es sah aus wie aufgemalt. Der Brief kam von einer Hanna aus Cuxhaven.
Du bist der zärtlichste Liebhaber, den ich jemals hatte.
Jutta knüllte den Brief zusammen und warf ihn gegen die Wand. Sogleich besann sie sich wieder und hob das Papierknäuel auf. Niemand sollte das finden. Sie fand es demütigend für sich selbst.
Ein kurzer Moment der Hoffnung flammte in ihr auf. Vielleicht war der Brief ja schon alt. Sie sah auf die Briefmarke und den Stempel der Post. Der Brief war am 12. Januar eingeworfen worden.
„Ich habe dir eine Schatztruhe gebastelt, und du hast darin nicht nur meine, sondern auch die Liebesbriefe von anderen Frauen aufbewahrt, du blöder Hund, du!“, schrie sie und trat gegen den leeren Pappkarton.
Wer immer ihre Liebesbriefe gestohlen hatte, der musste auch die Liebesbriefe anderer Frauen an sich genommen haben. Unwahrscheinlich, dass sich nur dieser eine in dem Kästchen befunden hatte.
Was will jemand damit?, fragte sich Jutta. Lief das Ganze auf eine Erpressung hinaus? Arbeitete hier jemand daran, das Heiligenbild von Ulf Speicher zu demontieren?
Sie konnte sich kaum vorstellen, dass das möglich war. Durch seinen gewaltsamen Tod war er längst zur Ikone geworden.
Jutta gab dem Impuls, das Haus sofort zu verlassen und wegzulaufen, nicht nach. Sie wusste, dass Ulf Tagebücher geschrieben hatte. Er hatte es nie in ihrem Beisein getan, doch er konnte an keinem Schreibwarengeschäft vorbei- gehen, wenn schöne Füller ausgestellt waren oder edle Kladden, Tagebücher oder originelle Notizblöcke. Er ging hinein, musste alles anfassen und die Seiten durch die Finger gleiten lassen. Er hatte ein fast erotisches Verhältnis zu Papier gehabt.
Seine Worte klangen in ihren Ohren: „Bald brauche ich ein neues Tagebuch. Dies hier ist ganz schön, aber das Papier ist mir zu grobkörnig. Außerdem brauche ich eins mit Kästchen, keines mit Linien.“
Ja, er hatte seine Gedanken nicht gern auf liniertes Papier geschrieben. Die Kästchen gaben seinen Buchstaben eine Form, die er dann nach Belieben sprengen konnte.
So war er. Er musste eingesperrt sein, um Grenzen durchbrechen und sich die Freiheit nehmen zu können. So hatte er auch die Beziehung zu ihr gelebt.
Wo bewahrte er seine Tagebücher auf? Waren sie auch gestohlen worden? Hatte der Einbrecher vielleicht gezielt die Tagebücher und die private Post gesucht?
Sie kam zu der Überzeugung, dass, wer immer diese Wohnung durchsucht hatte, einen Schlüssel besitzen müsste. Ein Reserveschlüssel zum Haus hing immer im Regenbogen-Verein an der Wand, neben den Ersatzschlüsseln für die Fahrzeuge, das Freizeitheim und das Büro. Bei dem häufig wechselnden Personal und den vielen Mitarbeitern konnte nicht jeder für alles einen eigenen Schlüssel haben. Das Ganze wurde unübersichtlich. Außerdem verloren Mitarbeiter Schlüssel, tauschten sie aus, gaben sie an Vertretungen weiter. Es könnte jeder gewesen sein, der Zugang zu den Räumen des Regenbogen-Vereins hatte. Und sie war sich nicht sicher, ob man den Personenkreis auf fünfzig oder sechzig beschränken konnte.
Jutta Breuer fand die Tagebücher zwischen seinen Kochbüchern in der Küche im Regal. Das waren sie für ihn gewesen: Gebrauchsgegenstände, die er täglich benutzte.