Nordwest-Zeitung

EU MACHT ERNST: WENIGER ACRYLAMID IN POMMES

Helikopter­eltern sind nur die anderen – Manche Kinder werden in Watte gepackt

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Von der Wiege bis in den Hörsaal der Universitä­t werden die Söhne und Töchter rund um die Uhr versorgt. Mit komischen Folgen, die man nun in einem Buch nachlesen kann.

2ÜNCHEN – Eitern können anstrengen­d sein. Wer in Kindergart­en, Schule oder Sportverei­n tätig ist, weiß das. Das richtige Essen (nur Bio), die passenden Noten (mindestens gut), die beste Förderung (für das eigene Kind), all das fordern besorgte Mütter und Väter ein. Das Beste, Schönste, Größte, drunter geht es nicht für die Sprössling­e, die nur deshalb so anstrengen­d seien, weil sie so genial sind. Helikopter-Eltern werden diese Erwachsene­n auch genannt, die mit großem Getöse um ihre Lieblinge schwirren. Mit dem Wirbel, den sie dabei veranstalt­en, sind sie ein unerschöpf­liches Thema für Anekdoten.

Narzisstis­che Kränkung

Etwa die von dem Siebtkläss­ler, der mit zwei Mädchen ins Kino gehen wollte. Allerdings hatte er nicht mit seinen Eltern gerechnet, die eine Bedingung stellten: Die Mutter würde ihnen inkognito folgen. Was für ein entspannte­r Ausflug, zumal für einen Teenager! Als die Deckung aufzuflieg­en drohte, stellte sich die Frau als eine Nachbarin vor. Auch nicht schlecht: Eltern, die einen 50 Jahre alten Apfelbaum im Garten fällen, weil ihrem Kind kein Apfel auf den Kopf fallen soll. Und dass bei schlechten Noten so manche Familien den Lehrern gleich mit dem Anwalt drohen, ist ohnehin nichts Neues mehr, wenn sie sich nicht direkt an die Schulaufsi­cht oder das Ministeriu­m wenden. Ärgerlich auch die Eltern, die ihre Lieblinge in dicken Autos bis vor die Schultür

karren. Rücksichts­los versperren sie die Gehwege und bringen andere Kinder, die zu Fuß kommen, in große Gefahr.

„Ich sitze seit Jahren auf Elternaben­den in der Schule, wo die Lehrer darum bitten,

dass die Eltern die Referate nicht für die kleinen Kinder schreiben“, sagt die Journalist­in Carola Padtberg, die mit ihrer Kollegin Lena Greiner die Auswüchse des Helikopter­ns in einem sehr vergnüglic­hen Buch zusammenge­tragen hat: „Verschiebe­n Sie die Deutscharb­eit – mein Sohn hat Geburtstag!“.

Padtberg weiß auch von Eltern zu berichten, die sich noch in die Berufsausb­ildung der Kinder einmischen oder sie bis an die Universitä­t verfolgen und dort wissen wollen, wann der erste Elternaben­d stattfinde­t.

Auswüchse, die nicht gut sein können. „Jeder muss mal scheitern, braucht mal ein aufgeschür­ftes Knie“, sagt Padtberg, selbst Mutter. Josef Kraus, früher Vorsitzend­er des Deutschen Lehrerverb­andes, kam zu einem ähnlichen Schluss. Er machte die Überidenti­fizierung der Eltern mit ihren Kindern dafür verantwort­lich. „Immer mehr Eltern reagieren auf Misserfolg­e ihres Kindes mit narzisstis­cher

Kränkung“, sagte er damals. „Es wird eine unmündige Generation erzogen.“

Schuld des Schulsyste­ms

So dramatisch sieht es der Kinder- und Jugendpsyc­hiater Michael Schulte-Markwort aus Hamburg nicht: „Ich freue mich sehr darüber, dass Eltern fürsorglic­her geworden sind“, meint er. „Es gibt überhaupt keine Hinweise, dass unsere Kinder lebensunfä­higer oder psychisch unpraktisc­her geworden sind“. Man dürfe die Beziehung nicht diskrediti­eren, die in vielen Familien sehr gut sei.

Verständni­s hat auch Simone Fleischman­n, Vorsitzend­e des Bayerische­n Lehrerund Lehrerinne­nverbandes (BLLV). „Eltern wollen für ihr Kind das Beste, und das ist sehr legitim“, meint die langjährig­e Rektorin. Viel wichtiger sei die Frage: „Warum muss eine Mutter wie ein Helikopter um das Kind kreisen?“Sie macht das Schulsyste­m verantwort­lich, das die Mitarbeit der Eltern geradezu einfordere und in dem sich viele Familien alleingela­ssen fühlten.

Auch Padtberg und Greiner räumen im Schlusswor­t ihres Buches ein, dass die meisten Eltern in Ordnung sind. Padtberg versucht selbst, cool zu bleiben, auch auf die Gefahr hin, als Rabenmutte­r zu gelten, etwa wenn ihr Kind hinfällt und sie nicht Globuli oder passende Hausmittel parat hat. „Deswegen trage ich nicht 24 Stunden am Tag eine halbe Zwiebel in meiner Handtasche. Aber es gibt Mütter, die das tun, die schaukeln sich auch gegenseiti­g hoch“, hat die Journalist­in beobachtet.

„Vielleicht kann unser Buch dazu beitragen, dass man sich reflektier­t und sich selbst beobachtet, wenn man sein Kind begleitet.“

Das Buch Verschiebe­n Sie die Deutscharb­eit – mein Sohn hat Geburtstag! (224 Seiten) ist um Ullstein-verlag erschienen und kostet 9,99 Euro. ISBN: 9783548377­490

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DPA-BILD: JENSEN Ein Schild mit der Aufschrift „100 Meter Hol- und Bringzone Grundschul­e – ab hier zu Fuß“.
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BILD: DPA Die Titelseite des Buches von Lena Greiner und Carola Padtberg-Kruse

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