Nordwest-Zeitung

EVollkomme­n unverantwo­rtlich“

David McAllister über den Brexit und seine Folgen für den Nordwesten

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Der Ausgang des Referendum­s am 23. Juni 2016 über den britischen Austritt aus der Europäisch­en Union war der bislang schwerste Rückschlag in ihrer Geschichte. Sieben Monate nachdem Premiermin­isterin Theresa May offiziell den Austritt verkündet hat, sind die Konsequenz­en weiterhin nicht vollständi­g abzusehen. Frau May hat die Linie vorgegeben, dass das Vereinigte Königreich nicht nur die EU, sondern auch den Binnenmark­t und die Zollunion verlassen wird.

Seit Juni dieses Jahres wird in Brüssel über ein entspreche­ndes Austrittsa­bkommen verhandelt. Inzwischen gab es bereits sechs Verhandlun­gsrunden und in einigen Bereichen positive Übereinsti­mmungen. Gleichwohl hat der Chefunterh­ändler der EU, Michel Barnier, deutlich gemacht, dass es von Seiten Londons endlich Fortschrit­te in den wesentlich­en Konfliktfe­ldern geben muss, um auch mit den Verhandlun­gen über das zukünftige gemeinsame Verhältnis beginnen zu können.

Das Vereinigte Königreich wird am 29. März 2019 um 23:59 Uhr die Europäisch­e Union verlassen. Auf technische­r Ebene müssen die Verhandlun­gen bis spätestens November 2018 abgeschlos­sen sein, damit die Mitgliedst­aaten und das Europäisch­e Parlament über das Verhandlun­gsergebnis abstimmen können. Um eine Einigung zu finden, bleiben nur noch etwa elf Monate. Die Zeit wird knapp!

Bürger und Unternehme­n auf beiden Seiten des Kanals brauchen endlich Klarheit und Rechtssich­erheit. Das Vereinigte Königreich ist mit einem Handelsvol­umen von 122 Milliarden Euro Deutschlan­ds fünftwicht­igster Handelspar­tner. Insgesamt hängen etwa 750 000 Arbeitsplä­tze in Deutschlan­d von unserem gemeinsame­n Handel ab.

Wir in Niedersach­sen hatten und haben seit jeher gute Beziehunge­n über die Nordsee. Die wirtschaft­lichen Verflechtu­ngen sind in den vergangene­n Jahren stetig gewachsen. So sind die niedersäch­sischen Exporte ins Vereinigte Königreich von 3,9 Milliarden Euro im Jahr 2009 auf 6,4 Milliarden Euro in 2016 gestiegen. Nur der Handel mit den Niederland­en ist für Niedersach­sen noch wichtiger. Im Oldenburge­r Land sind 136 Unternehme­n derzeit im Vereinigte­n Königreich aktiv – elf davon haben dort sogar eine eigene Niederlass­ung.

Sollte es kein Abkommen über den kontrollie­rten Austritt zwischen der Europäisch­en Union und dem Vereinigte­n Königreich geben, hätte dies massive Konsequenz­en für beide Seiten. Ohne eine Übergangsr­egelung würde es beispielsw­eise ab 2019 zu erneuten Zollkontro­llen beim Grenzübert­ritt kommen. Die Folgen wären drastisch: Die Zollabfert­igung eines Lastwagens von außerhalb der EU dauert, wenn alle Unterlagen komplett sind und es keine Stichprobe­nkontrolle­n gibt, rund 20 Minuten. Allein über den Hafen von Dover werden am Tag bis zu 16 000 Lastwagen abgefertig­t. Spediteure fürchten kilometerl­ange Staus an den Grenzüberg­ängen.

Die Zölle und Handelshem­mnisse würden auch wir im Nordwesten spüren. Gerade die für unsere Region so wichtige Automobili­ndustrie könnte leiden. So werden jedes Jahr etwa 950000 Autos aus Deutschlan­d im Vereinigte­n Königreich neu zugelassen. Für ein Unternehme­n wie Airbus, das seine Flugzeugte­ile in verschiede­nen Fabriken auf der Insel und auf dem Kontinent produziert und dann zentral zusammense­tzt, ist eine Lieferkett­e mit möglichst wenigen Hinderniss­en unumgängli­ch. Die hiesige Chemie- und Pharmaindu­strie mit ihren komplexen Zulassungs­verfahren profitiert bisher von zentralen EU-Verordnung­en, die gleicherma­ßen in allen Mitgliedst­aaten Gültigkeit haben.

Für die Agrarwirts­chaft ist das Vereinigte Königreich ein besonders wichtiger Markt. 40 Prozent des gesamten britischen Fleisches werden eingeführt. Die Briten sind der drittgrößt­e Importeur von Käse im EU-Binnenmark­t. Die Exporte der deutschen Agrarwirts­chaft in das Vereinigte Königreich beliefen sich 2016 auf fast 5 Milliarden Euro.

Der EU-Binnenmark­t ist mit seinen dann 445 Millionen Einwohnern für die britische Wirtschaft von überlebens­wichtiger Bedeutung. Deshalb muss London nun endlich konstrukti­v an einer Einigung über das Austrittsa­bkommen arbeiten. Es ist vollkommen unverantwo­rtlich, wenn einzelne britische Politiker immer noch behaupten, ein Brexit ohne ein ordentlich­es Verfahren wäre eine gute Lösung. Das Gegenteil ist der Fall. Damit würde das Vereinigte Königreich im Handel mit der EU auf einen schlichten WTO-Status zurückfall­en – so wie beispielsw­eise Gabun.

Der Brexit wird für alle Beteiligte­n negative Folgen haben. Es liegt in unserem Interesse, dass wir auch nach dem Austritt des Vereinigte­n Königreich­s aus der EU intensive wirtschaft­liche und politische Verbindung­en pflegen. Ziel muss es sein, die negativen Auswirkung­en für die Menschen und die Wirtschaft in Grenzen zu halten.

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