OSTFRIESENKILLER
86. FORTSETZUNG
Hier hatte der Einbrecher wohl nicht gesucht. Wer vermutete schon zwischen Kochbüchern und Zettelkästen mit Rezepten die privaten Aufzeichnungen des legendären Ulf Speicher?
Jutta legte drei Tagebücher auf den Küchentisch und setzte sich auf seinen Lieblingsplatz. Sie sah sich um, bevor sie das erste Tagebuch aufschlug. Ja, hier musste er oft gehockt haben, während auf dem Herd seine geliebte Fischsuppe brodelte. Sie konnte es gut nachempfinden. Hier hatte er den Geruch, ein angenehmes Licht, wahrscheinlich lief auf der kleinen Stereoanlage, die auf dem Fensterbrett stand, eine Beatles-CD. Sie stand noch einmal auf und drückte beim CDPlayer auf Open. Tatsächlich. Eine Beatles-CD war noch eingelegt: Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Dann erst setzte sie sich wieder und begann zu lesen. Ihre Hände und Füße waren kalt. Sie spürte ein Kratzen im Hals und musste husten. Es ging ihr nicht besonders gut.
Ulf Speichers Schrift war klar und deutlich. Mühelos zu lesen. Aber der Text geradezu fieberhaft. Endlos lange Sätze, viele, viele Kommata und Gedankenstriche. Nur selten endete ein Satz mit einem Punkt, meist mit einem Ausrufezeichen.
In diesen Büchern hatte er nicht seine tagtäglichen Erlebnisse aufgezeichnet. Hier stand nichts über seine Arbeit im Regenbogen-Verein. Dies waren die Protokolle seiner Träume. Voller Sex, Blut und Gewalt. Gab es einen zweiten Ulf Speicher – einen, der sich der öffentlichen Wahrnehmung völlig entzogen hatte? Einen, der Gewaltphantasien nachhing? Quälten ihn diese Träume oder fand er Gefallen an ihnen?
Es war schrecklich. Sie konnte nicht weiterlesen. Sie hatte Schlimmes erwartet. Vielleicht Schwärmereien über seine verschiedenen Bettgeschichten. Das hätte sie verkraftet. Aber dies hier überstieg alles Denkbare.
Angewidert schlug sie die erste Kladde zu. Das hier durfchen te niemals jemand in die Finger kriegen. Wie gut, dass der Einbrecher es nicht gefunden hatte. Sollte er doch die Liebesbriefe behalten. Damit konnte er dem Ruf von Ulf Speicher nicht viel schaden. Das hier hätte ihn vernichtet.
Sie packte die Bücher in eine Plastiktüte.
Tim Gerlach stand vor Haftrichter Dr. Sigurd Jaspers, und Weller und Rupert erlebten ihr zweites Waterloo.
Der Haftrichter konnte nur den Kopf schütteln. Präsentierten die jetzt hier wirklich wenige Stunden später einen zweiten Verdächtigen?
Nein, es spielte keine Rolle, dass er mit Tim Gerlachs Vater zusammen im Gesangverein gewesen war. Das war fast zwanzig Jahre her. Dann hatten sie sich aus den Augen verloren. Nein, für befangen hielt er sich nicht. Viel wichtiger war es für ihn, wie er in den Augen seiner Tochter Mara dastand. Sie lehnte Staat und Gesellschaft ab und natürlich auch ihn, denn er repräsentierte beides. Er fühlte sich auf dem Prüfstand. Sie beobachtete ihn und seine Arbeit ganz genau.
Sie hatte ihm vorgeworfen: „Ihr braucht jetzt einen Schuldigen. Da ist euch doch jeder recht. Hauptsache, ihr blamiert euch nicht länger. Durch den heftigen Wunsch, einen Täter zu fassen, wird ein Verdächtiger viel schneller überführt.“
Mara war einmal in ihrem Leben unschuldig unter Verdacht geraten. Bei einem Besuch in Köln in einem Kaufhaus. Der Ladendetektiv hatte sie festgehalten und des Diebstahls beschuldigt. Sie hatte sich geweigert, die 50 Euro Fangprämie zu bezahlen und ihre Unschuld beteuert. Im Prozess war sie freigespro- worden. Vielleicht mit Rücksicht darauf, dass ihr Vater in Ostfriesland ein angesehener Richter war. Doch trotzdem war sie von der Sache tief traumatisiert.
Weller und Rupert sahen für Richter Jaspers aus wie die zu Leben erweckten Bestätigungen der Theorie seiner Tochter. Sie schleppten hier einen Verdächtigen nach dem anderen an. Dass Jaspers kurz vorher Georg Kohlhammer entlassen musste, weil nicht genügend Beweise gegen ihn vorlagen, war schon die halbe Fahrkarte für Tim Gerlach.
„Alles, was Sie hier vorbringen, sind nette Theorien“, sagte Richter Jaspers. „Aber wie wäre es mit Beweisen? Bringen Sie mir Indizien. Fingerabdrücke. Gewebespuren. Irgendetwas Überprüfbares. Herr Gerlach hat sich möglicherweise Frau Kleine nicht aus den edelsten Motiven genähert. Aber wir suchen hier keinen Heiratsschwindler, sondern einen Serienkiller.“
Genau wie seine Tochter vermutete Sigurd Jaspers den Mörder eher im rechten Milieu. Das sagte er aber nicht laut, weil er sich jeder Vermutung enthalten musste.
Trotzdem blieb ein ungutes Gefühl bei ihm zurück. Dieser Tim Gerlach war ihm in seinem Auftreten eine Spur zu unschuldig, zu empört über seine Festnahme. Seine Preise als Bogenschütze in einem Verein waren für den Richter ein geradezu lächerliches Argument. Sollte man jetzt alle organisierten Bogenschützen Ostfrieslands festnehmen? Wahrscheinlich war der Mörder doch eher ein Einzelgänger, der zu Hause heimlich im Keller übte. Wer an offiziellen Meisterschaften teilnahm, würde für einen Mord doch wohl eine andere Tatwaffe wählen, es sei denn, er wäre völlig verrückt und wollte gerne überführt werden.
Er wusste, dass jede seiner Entscheidungen in der Presse ausführlich kommentiert werden würde. Er würde nur einen Haftbefehl unterschreiben: und zwar den für den richtigen Mörder. FORTSETZUNG FOLGT