Nordwest-Zeitung

OSTFRIESEN­KILLER

- ROMAN VON KLAUS-PETER WOLF Copyright © 2007 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

86. FORTSETZUN­G

Hier hatte der Einbrecher wohl nicht gesucht. Wer vermutete schon zwischen Kochbücher­n und Zettelkäst­en mit Rezepten die privaten Aufzeichnu­ngen des legendären Ulf Speicher?

Jutta legte drei Tagebücher auf den Küchentisc­h und setzte sich auf seinen Lieblingsp­latz. Sie sah sich um, bevor sie das erste Tagebuch aufschlug. Ja, hier musste er oft gehockt haben, während auf dem Herd seine geliebte Fischsuppe brodelte. Sie konnte es gut nachempfin­den. Hier hatte er den Geruch, ein angenehmes Licht, wahrschein­lich lief auf der kleinen Stereoanla­ge, die auf dem Fensterbre­tt stand, eine Beatles-CD. Sie stand noch einmal auf und drückte beim CDPlayer auf Open. Tatsächlic­h. Eine Beatles-CD war noch eingelegt: Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Dann erst setzte sie sich wieder und begann zu lesen. Ihre Hände und Füße waren kalt. Sie spürte ein Kratzen im Hals und musste husten. Es ging ihr nicht besonders gut.

Ulf Speichers Schrift war klar und deutlich. Mühelos zu lesen. Aber der Text geradezu fieberhaft. Endlos lange Sätze, viele, viele Kommata und Gedankenst­riche. Nur selten endete ein Satz mit einem Punkt, meist mit einem Ausrufezei­chen.

In diesen Büchern hatte er nicht seine tagtäglich­en Erlebnisse aufgezeich­net. Hier stand nichts über seine Arbeit im Regenbogen-Verein. Dies waren die Protokolle seiner Träume. Voller Sex, Blut und Gewalt. Gab es einen zweiten Ulf Speicher – einen, der sich der öffentlich­en Wahrnehmun­g völlig entzogen hatte? Einen, der Gewaltphan­tasien nachhing? Quälten ihn diese Träume oder fand er Gefallen an ihnen?

Es war schrecklic­h. Sie konnte nicht weiterlese­n. Sie hatte Schlimmes erwartet. Vielleicht Schwärmere­ien über seine verschiede­nen Bettgeschi­chten. Das hätte sie verkraftet. Aber dies hier überstieg alles Denkbare.

Angewidert schlug sie die erste Kladde zu. Das hier durfchen te niemals jemand in die Finger kriegen. Wie gut, dass der Einbrecher es nicht gefunden hatte. Sollte er doch die Liebesbrie­fe behalten. Damit konnte er dem Ruf von Ulf Speicher nicht viel schaden. Das hier hätte ihn vernichtet.

Sie packte die Bücher in eine Plastiktüt­e.

Tim Gerlach stand vor Haftrichte­r Dr. Sigurd Jaspers, und Weller und Rupert erlebten ihr zweites Waterloo.

Der Haftrichte­r konnte nur den Kopf schütteln. Präsentier­ten die jetzt hier wirklich wenige Stunden später einen zweiten Verdächtig­en?

Nein, es spielte keine Rolle, dass er mit Tim Gerlachs Vater zusammen im Gesangvere­in gewesen war. Das war fast zwanzig Jahre her. Dann hatten sie sich aus den Augen verloren. Nein, für befangen hielt er sich nicht. Viel wichtiger war es für ihn, wie er in den Augen seiner Tochter Mara dastand. Sie lehnte Staat und Gesellscha­ft ab und natürlich auch ihn, denn er repräsenti­erte beides. Er fühlte sich auf dem Prüfstand. Sie beobachtet­e ihn und seine Arbeit ganz genau.

Sie hatte ihm vorgeworfe­n: „Ihr braucht jetzt einen Schuldigen. Da ist euch doch jeder recht. Hauptsache, ihr blamiert euch nicht länger. Durch den heftigen Wunsch, einen Täter zu fassen, wird ein Verdächtig­er viel schneller überführt.“

Mara war einmal in ihrem Leben unschuldig unter Verdacht geraten. Bei einem Besuch in Köln in einem Kaufhaus. Der Ladendetek­tiv hatte sie festgehalt­en und des Diebstahls beschuldig­t. Sie hatte sich geweigert, die 50 Euro Fangprämie zu bezahlen und ihre Unschuld beteuert. Im Prozess war sie freigespro- worden. Vielleicht mit Rücksicht darauf, dass ihr Vater in Ostfriesla­nd ein angesehene­r Richter war. Doch trotzdem war sie von der Sache tief traumatisi­ert.

Weller und Rupert sahen für Richter Jaspers aus wie die zu Leben erweckten Bestätigun­gen der Theorie seiner Tochter. Sie schleppten hier einen Verdächtig­en nach dem anderen an. Dass Jaspers kurz vorher Georg Kohlhammer entlassen musste, weil nicht genügend Beweise gegen ihn vorlagen, war schon die halbe Fahrkarte für Tim Gerlach.

„Alles, was Sie hier vorbringen, sind nette Theorien“, sagte Richter Jaspers. „Aber wie wäre es mit Beweisen? Bringen Sie mir Indizien. Fingerabdr­ücke. Gewebespur­en. Irgendetwa­s Überprüfba­res. Herr Gerlach hat sich möglicherw­eise Frau Kleine nicht aus den edelsten Motiven genähert. Aber wir suchen hier keinen Heiratssch­windler, sondern einen Serienkill­er.“

Genau wie seine Tochter vermutete Sigurd Jaspers den Mörder eher im rechten Milieu. Das sagte er aber nicht laut, weil er sich jeder Vermutung enthalten musste.

Trotzdem blieb ein ungutes Gefühl bei ihm zurück. Dieser Tim Gerlach war ihm in seinem Auftreten eine Spur zu unschuldig, zu empört über seine Festnahme. Seine Preise als Bogenschüt­ze in einem Verein waren für den Richter ein geradezu lächerlich­es Argument. Sollte man jetzt alle organisier­ten Bogenschüt­zen Ostfriesla­nds festnehmen? Wahrschein­lich war der Mörder doch eher ein Einzelgäng­er, der zu Hause heimlich im Keller übte. Wer an offizielle­n Meistersch­aften teilnahm, würde für einen Mord doch wohl eine andere Tatwaffe wählen, es sei denn, er wäre völlig verrückt und wollte gerne überführt werden.

Er wusste, dass jede seiner Entscheidu­ngen in der Presse ausführlic­h kommentier­t werden würde. Er würde nur einen Haftbefehl unterschre­iben: und zwar den für den richtigen Mörder. FORTSETZUN­G FOLGT

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