„Den Angeklagten der Reihe nach in die Augen sehen“
Wie Manfred Reißaus mit seinem Verlust umgeht und was er sich vom Prozess erhofft
BAD SALZUFLEN – EinGhmal schreibt Manfred Reißaus seiner Tochter Svenja noch Briefe. Schreibt, wie sehr er sie vermisst. Und dass er wütend ist, „dass sie mich einfach so verlassen hat“. Am 24. Juli 2010 hat der Malermeister bei der Loveparade in Duisburg seine 22 Jahre alte Tochter verloren. Und sein früheres Leben. Beim bevorstehenden Loveparade-Prozess ist der 55-Jährige Nebenkläger.
Am Unglückstag, einem Samstag, wollte sie eigentlich nicht zu der Technoparade gehen und noch für eine Klausur lernen, erzählt Reißaus. Einem Freund zuliebe tat sie es dann aber doch. „Als ich am Abend von dem Ganzen hörte, dachte ich, sie wird doch wohl nicht dahin gegangen sein.“Reißaus ruft auf Svenjas Handy an. Vergeblich.
Nach einer schlaflosen Nacht am Sonntagmorgen dann endlich die vermeintlich erlösende Nachricht: Alle Toten seien identifiziert, die Angehörigen verständigt, sagt jemand am Telefon. Der besorgte Vater fährt nach Duisburg, Krankenhäuser abklappern. Doch wieder nichts: „Nirgendwo gab’s meine Tochter.“
Am späten Nachmittag fährt Reißaus entnervt zum Polizeipräsidium. Dort fragt man ihn: Wie groß war sie? Wie sah sie aus? Welche Kleidung trug sie? Noch am selben Tag muss er sie identifizieren. Reißaus’ Welt bricht zusammen. Im Gedränge der Loveparade verlieren am Ende 21 junge Menschen ihr Leben, Hunderte werden verletzt. Nicht wenige leiden bis heute unter den Folgen.
Mehr als sieben Jahre sind inzwischen vergangen. Die erste Zeit war hart: „Am Anfang haben wir uns sehr allein gelassen gefühlt. Viele hatten sich abgewendet, weil sie nicht wussten, wie sie mit einem umgehen sollen.“
Reißaus lebt jetzt im westfälischen Bad Salzuflen unweit von Bielefeld. Auf einem Regalbrett an der Wand neben dem Wohnzimmertisch stehen zwei gerahmte Porträt-
fotos von Svenja. Auf dem einen trägt sie die Bluse, die sie auch am Unglückstag trug. Ihr Vater hat sie später völlig zerrissen von der Polizei zurückbekommen. Aus einer Vase ragen drei weiße Kunststoff-Rosen. „Das war die Tischdeko beim Leichenschmaus.“Auf dem Regal hat Reißaus eine schöne Kerze aufgestellt und angezündet. Er hatte sie am 7. Jahrestag
beim traditionellen Angehörigen-Gottesdienst in Duisburg bekommen. Auch ein kleines Fotoalbum steht dort.
Reißaus hat nach der Katastrophe mühsam einen Weg zum Weiterleben gefunden. Er hat sich starkgemacht für die Einrichtung einer Gedenkstätte am Unglücksort, hat sich durch Aktenordner und Gesetzestexte gewühlt. Seit fast drei Jahren engagiert er sich für die Loveparade-Stiftung. Er ist Gründungsmitglied und sitzt im Beirat.
Bis heute kämpft er mit dem Verlust seiner Tochter: Immer noch hat er nachts oft Albträume und Schweißausbrüche. Seit drei Jahren nimmt er regelmäßig psychologische Hilfe in Anspruch.
Von dem Prozess erhofft Reißaus sich Aufklärung darüber, wie es zu dem Unglück kommen konnte. „Wir möchten als Eltern nicht, dass diese Sache noch mal passiert. Ein Urteil ist für mich uninteressant.“Er ist skeptisch, dass es vor der absoluten Verjährung der vorgeworfenen Taten im Juli 2020 überhaupt zu einem Urteil kommt.
Bei den ersten sechs Verhandlungsterminen bis zum Jahreswechsel will Reißaus jeden Tag dabei sein. „Dann weiß ich nicht. Vielleicht gehe ich auch nur den ersten Tag hin.“Und er hat sich etwas vorgenommen: „Das Schönste wäre, wenn ich mal aufstehen und den Angeklagten der Reihe nach in die Augen sehen könnte.“