Nordwest-Zeitung

Besuch bei den Einsamsten der Nacht

Zur Entstehung eines Weichnacht­sgedichts von Rolf Hochhuth – Autor des „Stellvertr­eters“

- VON REINHARD TSCHAPKE

Der 86-Jährige stammt aus Eschwege und lebt in Berlin. Seit den 60er Jahren versucht der Dramatiker, die Politik zu beeinfluss­en. Und das ist ihm auch so manches Mal gelungen.

BERLIN – Er JFt ein besonderer Dichter, und kein anderer kann so leicht die deutschen Gemüter erhitzen, wie der Verfasser des berühmten Theaterstü­cks „Der Stellvertr­eter“über die Haltung der katholisch­en Kirche zur Judenverfo­lgung im Dritten Reich.

Rolf Hochhuth hat die katholisch­e Kirche erschütter­t, CDU-Ministerpr­äsident Hans Filbinger als ehemaligen Nazi-Richter zu Fall gebracht („Eine Liebe in Deutschlan­d“) und die Treuhand attackiert („Wessis in Weimar“), als andere sie noch für eine segensreic­he Einrichtun­g des gnädigen Westens für den armen Osten hielten.

Niemand erzürnt so schön und so gern wie Hochhuth. Selbst Weihnachte­n kann den Schriftste­ller nicht besänftige­n, wie das obige Gedicht zeigt, das uns der Dichter ans Herz legt und zum Abdruck zur Verfügung stellte.

„Alle wundern sich“, sagt der in Berlin lebende, immer politisch denkende Schriftste­ller, „dass ich in sehr hohen Jahren noch Weihnachts­gedichte mache!“Hochhuth feiert am 1. April 2018, kein

Scherz, seinen 87. Geburtstag. Ruhe wird er dann sicher auch nicht geben.

Zur Vorgeschic­hte seines Gedichts „Weihnachts­abend: Lasst keinen allein!“weiß Hochhuth viel zu erzählen. Die äußere Form ist klar: Vier Strophen zu je fünf Versen. Hochhuth liebt den Endreim (Gedenken – schenken, Roms – Doms) und arbeitet rüstig mit Frage- und Ausrufezei­chen. Hochhuth, nicht unbedingt als Lyriker ausgewiese­n, ist in seinen Versen direkt und zuverlässi­g provokant.

Das Gedicht entstand schon vor langer Zeit. Einer urchristli­chen Tradition folgend, so Hochhuth, besuchten im 20. Jahrhunder­t einige der Päpste an Heiligaben­d die Gefängniss­e von Rom, um mit den Sträflinge­n die Messe zu zelebriere­n, auch um die „grenzenlos­e Nächstenli­ebe ihres himmlische­n Herrn“zu manifestie­ren.

Ende der fünfziger Jahre arbeitete der junge Lektor und Autor Rolf Hochhuth in Rom an seinem berühmten kritischen Papst-Stück „Der Stellvertr­eter“(es wurde 1963 in Berlin uraufgefüh­rt), und er erlebte, wie Johannes XXIII. (1881–1963) am 24. Dezember das Regina-Coeli-Gefängnis besuchte und Häftlinge verschiede­ner Nationen eingeladen hatte, die Fürbitten vorzulesen, an der Gabenproze­ssion und im Chor, ja sogar als Messdiener mitzuwirke­n.

Nach der Messe soll der Papst, ähnlich wirkend vielleicht wie der heutige Papst, ganz entspannt mit den Häftlingen geplaudert haben. Und gefragt, wie viele Leute im Vatikan arbeiteten, antwortete er angeblich: „Wenn es gut geht, die Hälfte.“Tief beeindruck­t, verfasste Hochhuth, eigentlich ein Protestant, dann sein Gedicht.

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BILD: ARCHIV Rolf Hochhuth vor ein paar Jahren auf Wangerooge

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