Ein fernge-teuerte- Volk
Im Vergleich zur Überwachung in China war die Stasi ein Kindergarten
In der südchinesischen Stadt Shenzhen verschwindet ein dreijähriges Kind. Die Polizei wird sofort aktiv. Sie besorgt sich Aufzeichnungen der Videokameras von dem Platz, wo der Vater den Dreijährigen verloren hat. Darauf ist eine Frau mittleren Alters zu sehen, die das Kind an der Hand wegführt. Wenig später ist ihre Identität über das Melderegister geklärt, wo ihr Foto gespeichert ist. Diese Informationen gleicht die Polizei nun mit anderen Daten ab. Tatsächlich kauft die Frau wenig später an einem Schalter ein Zugticket nach Wuhan; sie muss dafür ihren Ausweis vorlegen. Als sie in der 1000 Kilometer entfernten Stadt mit dem Kind aussteigt, wartet schon die Polizei auf sie.
Eine Erfolgsgeschichte – so klingt sie zumindest. China ist dabei, den gläsernen Bürger zu schaffen. Noch befindet sich vieles im Versuchsstadium; etwa in Shanghai, wo an einer Kreuzung mittels Gesichtserkennung Fußgänger erfasst werden, die bei Rot über die Straße gehen. Die Namen werden ermittelt und zusammen mit dem Foto auf Bildschirme in Nahverkehrsbusse übertragen. „Public Shaming“nennt sich das, öffentliches Beschämen.
In öffentlichen Toiletten werden Gesichtserkennungen installiert, um notorischen Klopapierdieben das Handwerk zu legen. Wer binnen kurzer Zeit versucht, Toilettenpapier am Automaten zu ziehen, erhält beim zweiten Mal keines mehr. Auch Universitäten und Studentenheime arbeiten mit Gesichtserkennung: Wer die Gebäude betreten will, muss einen Scanner passieren.
Und auch im Internet behält die chinesische Regierung ihr Volk im Blick. An der „Great Firewall“bleibt all das hängen, was das kommunistische Regime für schädlich hält; vor allem der Einfluss von außen in Form von Google, Facebook, Twitter und ausländischen Publikationen.
Dafür gibt es dann die chinesischen Pendants, die Suchmaschine Baidu, den Mikroblogging-Dienst Weibo
und WeChat, das wie WhatsApp funktioniert, aber mehr kann: nämlich einkaufen, Taxi bestellen, Arzttermin vereinbaren, Reisen buchen. Weil Pseudonyme verboten sind und jeder, der sich im Internet bewegt, mit seinem echten Namen und einer Telefonnummer registrieren beziehungsweise für Geschäfte ohnehin alles von Kreditkarte bis Adresse preisgeben muss, zieht jeder Chinese eine Aktionsspur hinter sich her.
Letzteres findet zwar in anderen Ländern auch statt; ab 2020 aber sollen in China all diese Informationen flächendeckend in einem sozialen Kreditsystem zusammengeführt werden. Wer sich kritisch über das Regime äußert, seinen Kredit zu spät zurückzahlt oder viele Stunden am Computer sitzt und Videospiele spielt, wird mit Punktabzug von seinem Konto be- straft. Wer dagegen sein Leihfahrrad ordentlich abstellt, regimetreue Freunde hat und einen guten Uniabschluss macht, erhält mehr Punkte – und damit mehr Möglichkeiten, eine Wohnung zu kaufen, an Feiertagen ein Zugticket zu ergattern oder eine Anstellung in einer Behörde zu erhalten.
„Das dient doch nur unserer eigenen Sicherheit“, sagt Dong, Reiseführer in der südchinesischen Stadt Guangzhou. Die alle paar Meter angebrachten Kameras an den Straßen – er sieht sie schon gar nicht mehr. Auch haben sich Millionen Chinesen freiwillig für das soziale Kreditsystem gemeldet, das sich noch im Aufbau befindet; viele sind stolz auf ihre Punktzahlen.
„Das ist sehr praktisch“, sagt eine junge Frau in Peking, „wir haben kürzlich ein Hotel gebucht, und weil wir einen guten Kontostand hatten, brauchten wir keine Vorauszahlung zu leisten.“Das Berliner Mercator-Institut für China-Studien warnt vor den Folgen und spricht von einer „massiven Macht“, die das Regime künftig über das 1,3Milliarden-Volk habe: „Die Sanktionen bei unerwünschtem Verhalten eröffnen ungeahnte Möglichkeiten, Menschen zu überwachen und am Ende zu steuern.“