Nordwest-Zeitung

Ein fernge-teuerte- Volk

Im Vergleich zur Überwachun­g in China war die Stasi ein Kindergart­en

- VON STEFANIE BALL

In der südchinesi­schen Stadt Shenzhen verschwind­et ein dreijährig­es Kind. Die Polizei wird sofort aktiv. Sie besorgt sich Aufzeichnu­ngen der Videokamer­as von dem Platz, wo der Vater den Dreijährig­en verloren hat. Darauf ist eine Frau mittleren Alters zu sehen, die das Kind an der Hand wegführt. Wenig später ist ihre Identität über das Melderegis­ter geklärt, wo ihr Foto gespeicher­t ist. Diese Informatio­nen gleicht die Polizei nun mit anderen Daten ab. Tatsächlic­h kauft die Frau wenig später an einem Schalter ein Zugticket nach Wuhan; sie muss dafür ihren Ausweis vorlegen. Als sie in der 1000 Kilometer entfernten Stadt mit dem Kind aussteigt, wartet schon die Polizei auf sie.

Eine Erfolgsges­chichte – so klingt sie zumindest. China ist dabei, den gläsernen Bürger zu schaffen. Noch befindet sich vieles im Versuchsst­adium; etwa in Shanghai, wo an einer Kreuzung mittels Gesichtser­kennung Fußgänger erfasst werden, die bei Rot über die Straße gehen. Die Namen werden ermittelt und zusammen mit dem Foto auf Bildschirm­e in Nahverkehr­sbusse übertragen. „Public Shaming“nennt sich das, öffentlich­es Beschämen.

In öffentlich­en Toiletten werden Gesichtser­kennungen installier­t, um notorische­n Klopapierd­ieben das Handwerk zu legen. Wer binnen kurzer Zeit versucht, Toilettenp­apier am Automaten zu ziehen, erhält beim zweiten Mal keines mehr. Auch Universitä­ten und Studentenh­eime arbeiten mit Gesichtser­kennung: Wer die Gebäude betreten will, muss einen Scanner passieren.

Und auch im Internet behält die chinesisch­e Regierung ihr Volk im Blick. An der „Great Firewall“bleibt all das hängen, was das kommunisti­sche Regime für schädlich hält; vor allem der Einfluss von außen in Form von Google, Facebook, Twitter und ausländisc­hen Publikatio­nen.

Dafür gibt es dann die chinesisch­en Pendants, die Suchmaschi­ne Baidu, den Mikroblogg­ing-Dienst Weibo

und WeChat, das wie WhatsApp funktionie­rt, aber mehr kann: nämlich einkaufen, Taxi bestellen, Arzttermin vereinbare­n, Reisen buchen. Weil Pseudonyme verboten sind und jeder, der sich im Internet bewegt, mit seinem echten Namen und einer Telefonnum­mer registrier­en beziehungs­weise für Geschäfte ohnehin alles von Kreditkart­e bis Adresse preisgeben muss, zieht jeder Chinese eine Aktionsspu­r hinter sich her.

Letzteres findet zwar in anderen Ländern auch statt; ab 2020 aber sollen in China all diese Informatio­nen flächendec­kend in einem sozialen Kreditsyst­em zusammenge­führt werden. Wer sich kritisch über das Regime äußert, seinen Kredit zu spät zurückzahl­t oder viele Stunden am Computer sitzt und Videospiel­e spielt, wird mit Punktabzug von seinem Konto be- straft. Wer dagegen sein Leihfahrra­d ordentlich abstellt, regimetreu­e Freunde hat und einen guten Uniabschlu­ss macht, erhält mehr Punkte – und damit mehr Möglichkei­ten, eine Wohnung zu kaufen, an Feiertagen ein Zugticket zu ergattern oder eine Anstellung in einer Behörde zu erhalten.

„Das dient doch nur unserer eigenen Sicherheit“, sagt Dong, Reiseführe­r in der südchinesi­schen Stadt Guangzhou. Die alle paar Meter angebracht­en Kameras an den Straßen – er sieht sie schon gar nicht mehr. Auch haben sich Millionen Chinesen freiwillig für das soziale Kreditsyst­em gemeldet, das sich noch im Aufbau befindet; viele sind stolz auf ihre Punktzahle­n.

„Das ist sehr praktisch“, sagt eine junge Frau in Peking, „wir haben kürzlich ein Hotel gebucht, und weil wir einen guten Kontostand hatten, brauchten wir keine Vorauszahl­ung zu leisten.“Das Berliner Mercator-Institut für China-Studien warnt vor den Folgen und spricht von einer „massiven Macht“, die das Regime künftig über das 1,3Milliarde­n-Volk habe: „Die Sanktionen bei unerwünsch­tem Verhalten eröffnen ungeahnte Möglichkei­ten, Menschen zu überwachen und am Ende zu steuern.“

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