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Silvia Beyer-Först gibt mit Bericht über ihr Leben mit Julian Anstoß für „Kiola“
Julian dreht alles, was ihm in den Weg kommt, ob Tupperschüssel, Hundenapf oder Teetasse – Hauptsache rund. Seine Mutter Silvia Beyer-Först nimmt’s gelassen.
Bei der Betreuung ihres schwerbehinderten Sohnes ist die Varelerin Silvia Beyer-Först oft an ihre Grenzen gestoßen. Sie hätte sich eine Kurzzeitpflege-Einrichtung wie „Kiola“früher gewünscht.
VAREL – Weihnachten ist Julian völlig egal. Nur daran, dass plötzlich ein Tannenbaum mit Kugeln im Wohnzimmer steht, merkt er, dass irgendetwas anders ist als sonst. Der 21-Jährige ist Autist in einer besonders schweren Form und lebt in seiner eigenen Welt. Für seine Mutter Silvia Beyer-Först ist dieses Weihnachtsfest hingegen ein ganz besonderes: Sie hat jetzt erfahren, dass sie vor fünf Jahren den Anstoß für das Projekt „Kiola“gegeben hat. In einem Bericht in der Ð hatte sie am 6. September 2012 ihr Leben mit Julian geschildert.
Sie hatte erzählt, dass sie ihr Leben voll und ganz auf die Bedürfnisse des damals 15-jährigen Jungen eingestellt hat und wie sehr sie sich eine Einrichtung wünscht, in der sie Julian kurzzeitig unterbringen könnte, um wieder etwas Kraft zu schöpfen.
Diesen Bericht las in Bad Zwischenahn Michael Albani. Der ehemalige Chefarzt eines Kinderkrankenhauses in Wiesbaden war dort wesentlich am Aufbau des Hauses „Zwerg Nase“beteiligt – ein Haus, das speziell für behinderte Kinder gebaut worden war, die eigentlich in der Familie leben. Aufgerüttelt von dem Bericht in der Ð, wandte sich Albani an Thomas Feld von der Diakonie und schlug ihm vor, ein ähnliches Projekt für das Oldenburger Land zu prüfen.
Von da an wurde zielstrebig gehandelt und der Plan für „Kiola“entwickelt. „Kiola“steht für Kurzzeitwohnen im Oldenburger Land. Im nächsten Jahr soll „Kiola“gebaut werden. Bauherr ist der Förderverein „Kiola“und Betreiber wird das Diakonische Werk der evangelischen Kirche im Oldenburger Land.
„Dass sich das aus dem Bericht über unser Leben entwickelt hat, ist wunderbar“, freut sich Silvia Beyer-Först für die Eltern und Kinder, die zukünftig dort Hilfe erfahren: „Das ist einfach unbezahlbar.“ Sie und Julian profitieren nicht mehr von „Kiola“, haben jetzt ganz andere Sorgen: Seit Julian 19 ist, lebt er in einem Heim für behinderte Kinder und Jugendliche in Hooksiel und ist jetzt mit 21 in dem Alter, dort ausziehen zu müssen. Aber wohin?
„Seit vier Jahren sind wir auf der Suche nach einem Heim für Erwachsene wie Julian“, sagt sie. Bisher allerdings ohne Erfolg: „Wenn wir Glück haben, werden wir noch zu einem Gespräch eingeladen, aber das war’s dann.“
Kaum eine Einrichtung traut es sich zu, das zu leisten, was Silvia Beyer-Först all die Jahre geleistet hat. Julian kam als ihr viertes Kind zur Welt, drei Monate zu früh und schwerbehindert. „Er hat eine Behinderung, für die es keinen Namen gibt“, sagt sie und erzählt von den vielen Tests bei Ärzten. „Da steht dann geschrieben, dass seine Ohren zu groß, seine Augen zu tiefliegend, seine Hände und Füße verkrümmt sind“, sagt sie, „das zu lesen, tut weh“.
Als er drei Jahre alt war, stellten die Ärzte die Diagnose Autismus, eine angeborene, unheilbare Wahrnehmungsund Informationsverarbeitungsstörung des Gehirns. Zu der Zeit ging ihre Ehe in die Brüche und Silvia Beyer-Först stand fortan alleine da mit Julian und seinen drei älteren Geschwistern.
Julian braucht nach wie vor eine 24-Stunden-Betreuung. „Man kann ihn nicht allein lassen“, erzählt Silvia BeyerFörst, „er hat kein Gefahrenbewusstsein“. Während sie das sagt, muss sie aufspringen, weil Julian am Griff der heißen Teekanne zerrt. Er möchte Tee. Das hatte er seiner Mutter zuvor signalisiert, indem er zur Teemaschine gelaufen war und den Griff berührt hatte.
Seine Mutter hat ihn für einen Tag aus seinem Heim in Hooksiel in sein altes Zuhause in Varel (Kreis Friesland) geholt, um zu erzählen, was aus Julian geworden ist. Er hat sich in den fünf Jahren seit dem ersten Bericht in der Ð kaum verändert, lebt immer noch in seiner Welt, in der sich alles drehen muss. Den ganzen Tag läuft oder rennt er herum und bringt Dinge zum Drehen: die Tupperschüssel, den Hundenapf, die Tortenplatte und die Teetasse sowieso. Immer noch muss Silvia Beyer-Först ihren Sohn ständig im Auge behalten, damit er sich nicht selbst verletzt, auch muss sie ihn mehrmals am Tag wickeln.
Silvia Beyer-Först ist mit ihrer Aufgabe gewachsen. „Ich bin nervenstark geworden“, sagt sie, während Julian neben ihr steht, eine große Tupperschüssel zum Drehen bringt und sich, wenn sie so richtig dreht, lautstark darüber freut. „Man lernt, so etwas auszublenden“, sagt die 55Jährige. Auf diese Weise hat sie es geschafft, sich neben der Betreuung von Julian und ihrer Teilzeitbeschäftigung als Dozentin für Pflege und Betreuung zur Fachwirtin im Gesundheitswesen fortzubilden. Sie wollte nach seinem Auszug nicht vor dem Nichts stehen und mit ihrer Berufstätigkeit ihren Kindern zeigen, dass es wichtig ist, sich finanziell unabhängig zu machen.
Aber jetzt wird erstmal mit der Familie Weihnachten gefeiert. Am ersten und zweiten Weihnachtstag holt sie Julian nach Hause. Sein Geschenk hat sie schon besorgt: eine Scheibe, die beim Drehen blinkt und Geräusche macht. Mindestens genau so viel Freude werden ihm die bunten Kugeln am Weihnachtsbaum machen. Sie hängen nicht lange am Baum, weil Julian sie ruckzuck abnimmt und als Drehobjekte zweckentfremdet.
Der Baum muss immer wieder neu geschmückt werden. Silvia Beyer-Först nimmt’s gelassen: „Unser Baum sieht Weihnachten immer anders aus.“In den 21 Jahren hat sie gelernt, mit Julian umzugehen: „Man muss sich auf ihn einlassen“, sagt sie, „er ist ein interessanter Kerl, etwas ganz Besonderes“.