Rekord an Seiteneinsteigern
3015 Neueinstellungen – Lehrerverband fordert bessere Qualifizierung
Lehrer fehlen allerorten. Seiteneinsteiger sind zwar sofort einsetzbar, doch ihre Einstellung bringt auch Probleme mit sich.
BERLIN – Unterrichtsausfall ist für Kultusminister ein Graus. Angesichts des leergefegten Lehrerarbeitsmarktes greifen sie zunehmend auf Seiteneinsteiger zurück. Im Schuljahr 2016/17 erreichte ihre Zahl mit 3015 einen Höchstwert. Laut Kultusministerkonferenz (KMK) verdoppelte sie sich im Vergleich zum Vorjahr. Dies entsprach einem Anteil von 8,4 Prozent aller Einstellungen in den öffentlichen Schuldienst – Tendenz steigend.
Seiteneinsteiger sind nach der Definition der KMK Menzehnten
schen mit Hochschulabschluss, die keine Lehramtsprüfung und kein Referendariat absolviert, aber eine pädagogische Zusatzqualifikation erhalten haben.
Die Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marlis
Tepe, bemängelt die schlechte Bedarfsplanung der KMK. „Angesichts der derzeitigen Pensionierungswelle war der Ersatzbedarf ja vorher erkennbar.“Ihr Kollege vom Verband Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann, pflichtet bei: „Die Politik macht seit Jahr- immer dasselbe: Es wird in Sachen Lehrerausbildung und -einstellung auf Kante genäht.“
Der größte Vorteil von Seiteneinsteigern: Sie sind schnell einsetzbar, müssen keine sechs- bis siebenjährige Ausbildung durchlaufen. Es fehlt aber oft das Vermögen, Fachwissen so aufzubereiten, dass Schüler es verstehen. Aus Sicht des VBE müssen Seiteneinsteiger besser vorbereitet werden. Ein Monat VollzeitQualifizierung der Akademiker in einem Seminar für Didaktik und Lehrerbildung sei das Mindeste, sagte VBE-Vorstandsmitglied Gerhard Brand. Danach müsse die Lehrkraft parallel zum Unterrichten das Seminar besuchen. Seiteneinsteiger einzustellen und sofort unterrichten zu lassen, sei unverantwortlich.
FRAGE: 0err Meidinger, an Deutschlands Grundschulen fehlen insgesamt 1222 Re3toren. Warum/ MEIDINGER: Der SchulleiterMangel hat sich insbesondere an Grund- und Förderschulen dramatisch verschärft. Es gibt zwei Gründe. Zum einen ist die Vergütung – es geht maximal eine Gehaltsstufe nach oben – für die Mehrbelastung bei Weitem nicht ausreichend. Oftmals gibt es nicht mehr als 150 Euro zusätzlich. Zum anderen ist der Verwaltungsaufwand massiv gestiegen, von statistischen Erhebungen über komplexe Verwaltungssoftware, die den Rektoren das Leben schwerer macht, bis zur mangelhaften Ausstattung der Sekretariate – an vielen Schulen müssen die Rektoren fast alles selbst machen. Dass das viele potenzielle Bewerber abschreckt, liegt auf der Hand. FRAGE: Was bedeutet es f.r die Schulen, 4enn sie 3eine 5eiterin oder 3einen 5eiter haben/ MEIDINGER: Die Aufgaben muss das Kollegium übernehmen. Das sind untragbare Zustände! Betroffen sind übrigens zunehmend auch andere Schularten, wo bislang die Bewerberlage noch vergleichsweise gut war. Dadurch steigt natürlich die Belastung für die Lehrerinnen und Lehrer, die einspringen müssen. FRAGE: Was ist zu tun/ MEIDINGER: Die Bundesländer müssen für eine bessere Bezahlung von Schulleitungen sorgen. Angemessen wäre die Einstufung in eine höhere Gehaltsklasse plus eine Schulleiter-Zulage. 600 der 1000 unbesetzten Stellen gibt es in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, den Ländern, in denen Leitungsposten besonders schlecht entlohnt werden. Wir brauchen zudem mehr Stellen in der Schulverwaltung. Auch Schulsekretärinnen werden zu schlecht bezahlt. Die Belastungen in der Verwaltung sind so enorm gestiegen, dass sich das längst in einem erhöhten Krankenstand bemerkbar macht. FRAGE: In vielen 7undesländern fehlen nicht nur Re3toren, sondern auch 5ehrer. Gibt es nicht genug 6bsolventen/ MEIDINGER: Tatsächlich hat sich der Lehrermangel in diesem Bereich insgesamt dramatisch zugespitzt. Die Berufsschulen mit einbezogen, fehlen bundesweit rund 20000 Lehrkräfte! Viele Länder haben es verschlafen, sich auf den Geburtenanstieg einzustellen und für das Lehramt
zu werben. Dass nun besonders viele Flüchtlingskinder eingeschult werden, verschärft die Lage weiter. Einen riesigen Fehler haben die neuen Bundesländer und Berlin gemacht, als sie nach der Wende Lehramtsstudienplätze drastisch abgebaut und teilweise auf null heruntergefahren haben. Das rächt sich nun bitter. Trotzdem wird bis heute an vielen Hochschulen noch ein Numerus clausus für das Grundschul-Lehramt verlangt. Das ist geradezu widersinnig und muss ganz schnell korrigiert werden. Wir brauchen wirklich jede und jeden, der dieses Studium anstrebt. FRAGE: Immer häufiger 4erden die 5.c3en durch 8uereinsteiger gestopft. Was bedeutet das f.r den 9nterricht/ MEIDINGER: Die Unterrichtsqualität leidet ganz erheblich, da für die meisten Quereinsteiger in vielen Bundesländern keine ausreichende Nachqualifizierung stattfindet. Teilweise liegt die Seiteneinsteiger-Quote bei Neueinstellungen wie in Sachsen und Berlin bei über 50 Prozent. In einigen Bundesländern unterrichten Personen an Grundschulen, die noch nie etwas von Methodik, Pädagogik und Didaktik gehört haben. Wie sollen sie den Kindern richtig Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen? Bildungsstudien haben schon erste Rückschritte bei Leistungen von Grundschülern nachgewiesen. Bei den nächsten Studien werden wir, so fürchte ich, die Quittung dafür bekommen, dass so viele Quereinsteiger eingesetzt werden. Die Leidtragenden sind die Kinder. Das ist ein unerträglicher Zustand, der noch Folgen haben wird. FRAGE: Wie 3ann 6bhilfe geschaffen 4erden/ MEIDINGER: Dringend notwendig wäre eine fundierte Nachqualifizierung, die aber derzeit Mangelware ist. Es fehlt an Seminaren und Ausbilderstellen, außerdem wollen viele Länder die neuen Kräfte sofort einsetzen. Eine mehrmonatige oder auf einen längeren Zeitraum verteilte Qualifizierung sollte vorgeschrieben werden, bevor jemandem eine Grundschulklasse anvertraut wird. Die Quereinsteiger müssen berufsvorbereitend und berufsbegleitend pädagogisch nachgeschult werden. Dass in Berlin Seiteneinsteiger nach ein paar Monaten Unterrichtstätigkeit ohne Nachqualifizierung quasi per Handauflegung unbefristet als Lehrer angestellt werden, entsetzt mich. Das kann es ja wohl nicht sein!