Nordwest-Zeitung

DAS GEDENKJAHR 2018: IM ZEICHEN DES WELTKRIEGS

,ie die Länder Europas an das Ende des Ersten Weltkriegs erinnern

- VON DON<S KRUMBEIN

Das Ende des ersten Weltkriegs jährt sich in diesem Jahr zum 100. Mal. Doch in jedem Land beschäftig­en Menschen andere Fragen. Spaltet oder vereint diese Vielfalt des Gedenkens Europa?

FREIBURG – Das Gedenken an den Ersten Weltkrieg soll die Europäer verbinden. So wollten es die Politiker in Europa zum 100. Jahrestag des ersten globalen und totalen Krieges, der 1914 begann und 1918 endete. „Es gab den Versuch, ein europäisch­es Gedenken zu organisier­en“, sagt der Freiburger Historiker Jörn Leonhard, Autor eines Standardwe­rks zum Ersten Weltkrieg.

Bilder zeugen davon, wie Politiker diesem Wunsch Ausdruck verliehen: 2014 umarmten sich die damaligen Staatspräs­identen Joachim Gauck und Francois Hollande, später Hollande und Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) an der Somme, im strömenden Regen.

Die Frage nach der Schuld

Dem gemeinsame­n Gedenken ihrer Spitzenpol­itiker folgten jedoch viele Europäer nicht. „In den gesellscha­ftlichen Debatten der kriegsbete­iligten Länder standen ganz unterschie­dliche Fragen im Mittelpunk­t des Interesses“, beobachtet­e Historiker Leonhard auf seinen Vortragsre­isen durch Europa.

In Deutschlan­d diskutiert­e man über die Frage der Schuld am Kriegsausb­ruch, ausgelöst durch einen Bestseller des Cambridge-Historiker­s Christophe­r Clark mit dem programmat­ischen Titel „Die Schlafwand­ler“. Es setzte eine Debatte darüber in Gang, ob Deutschlan­d doch nicht die Hauptveran­twortung für den Ersten Weltkrieg zu tragen habe – was bis zu diesem Zeitpunkt breiter Konsens in der Geschichts­forschung war.

Belgien, im Weltkrieg von deutschen Truppen besetzt, bewegte hingegen die Frage, ob der Umgang mit Frauen angemessen war, die während des Krieges Beziehunge­n zu deutschen Soldaten oder mit von Deutschlan­d geförderte­n flämischen Separatist­en unterhielt­en.

Frankreich würdigte den Beitrag seiner Kolonialso­ldaten zur Kriegsführ­ung, für die Russen stand der Erste Weltkrieg im Schatten der bolschewis­tischen Oktoberrev­olution von 1917. Und in Großbritan­nien sahen einflussre­iche Stimmen im Ersten Weltkrieg den Beginn eines langen Niedergang­s und die Anfänge einer Suche nach dem Platz des Landes in der Welt, die mit dem Brexit an Brisanz gewonnen hat.

Bis heute mit dem Krieg verbunden

„Diese Unterschie­de zwischen den Ländern darf man nicht leugnen, weil das Abwehrreak­tionen hervorruft“, mahnt Geschichts­wissenscha­ftler Leonhard. „In der Erzählung von Europa als Ausgangspu­nkt zweier Weltkriege und der europäisch­en Integratio­n als Überwindun­g allen Übels mögen sich einige Politiker wiederfind­en, aber nicht die Mehrheit der Menschen in ihren Ländern.“

Dennoch gebe es Kriegserfa­hrungen, die alle ehemaligen Kriegsteil­nehmer beträfen, wenn auch in unterschie­dlichem Ausmaß: der Zusammenbr­uch der Imperien der Habsburger­monarchie, des Zarenreich­s sowie des Osmanische­n Reichs, der Konflikträ­ume wie den Nahen Osten und die Ukraine hinterlass­en hat, die uns bis heute mit dem Ersten Weltkrieg verbinden.

Im Schatten der Novemberre­volution

So sehen das auch die Bundesregi­erung und von ihr geförderte Einrichtun­gen wie das „Deutsche Historisch­e Museum“, wo man 2018 „internatio­nale Aspekte und gegenwärti­ge Herausford­erungen“des Ersten Weltkriege­s diskutiere­n will. Im Schatten des Berliner Museums versuchen das Bundesinst­itut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa oder das Herder-Institut für historisch­e Ostmittele­uropaforsc­hung den 100. Jahrestag des Kriegsende­s 1918 und seine Folgen zu nutzen, um Entscheide­rn aus Politik und Wirtschaft Erträge einer modernen Osteuropaf­orschung vorzuführe­n.

Beim breiten Publikum könnten es derartige Angebote aber schwer haben, denn 2018 jährt sich auch die Novemberre­volution zum 100. Mal – und so erinnern die politische­n Ereignisse von damals vor allem an die politische Instabilit­ät.

Scheinbare Parallelen zur Gegenwart

Auf den ersten Blick scheint es Parallelen zu geben zur Gegenwart, zur derzeit schwierige­n Regierungs­bildung und zum Aufstieg der AfD. „Wir sind in Deutschlan­d schnell bei der Frage: Sind wir auf dem Weg in Weimarer Verhältnis­se?“, sagt auch Historiker Leonhard – und wehrt ab: „Diese Krisenrhet­orik wird der Bundesrepu­blik nicht gerecht.“

Deutschlan­d leide weder unter Hyperfinfl­ation noch unter den Bedingunge­n eines Friedensve­rtrags. „Die Auseinande­rsetzung mit dem Ersten Weltkrieg hilft uns vor allem, uns dieser Unterschie­de bewusst zu werden“, sagt Leonhard: „Geschichte wiederholt sich nicht, und deshalb können wir dem Ersten Weltkrieg auch keine Antworten abringen, wie wir den Nahen Osten befrieden.“

Gedenken verbindet eben doch

Wenn man aber aus der Geschichte nichts lernen kann, wenn ein gemeinsame­s Gedenken Europas an nationalen Erinnerung­en scheitert, warum dann all die Forschungs­gelder und Podiumsdis­kussionen, die Ausstellun­gen und Spitzentre­ffen?

Weil Gedenken eben doch verbinden kann: „In allen Ländern gerieten die Heimatfron­ten in den Blick, Kriegsopfe­r statt -helden, Frauen und Kolonialso­ldaten statt weiße Militärfüh­rer“, fasst Historiker Leonhard 100 Jahre Forschung und Gedenken an den Ersten Weltkrieg zusammen. Man könnte es auch so ausdrücken: In der Erinnerung ist heute Platz für (fast) alle.

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DPA-BILD:BOUVY
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DPA-BILD: CUGNOT Gemeinsame­s Gedenken: Fançois Hollande und Angela Merkel umarmen sich 2016 in Verdun.

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