Nordwest-Zeitung

ALS BREMEN STILL STAND

Temo gegen Fahrpreise legte Stadt lahm und zwang Politik zum Einlenken

- VON HELMUT REUTER

„Chaos in Bremen“titelten Zeitungen im Januar 1968. Straßensch­lachten legten die Hansestadt tagelang lahm, als die jungen 68er gegen Fahrpreise­rhöhungen aufbegehrt­en.

BREMEN – Es war ein kleines verlorenes Häuflein von einigen Dutzend Schülern, das sich am 15. Januar 1968 bei nass-kaltem Wetter mit selbst getippten Flugblätte­rn auf der Domsheide, einem zentralen Straßenbah­nknotenpun­kt in Bremen, einfand. Niemand von ihnen hatte damals daran gedacht, den Bahnverkeh­r zu blockieren oder gar Massenprot­este auszulösen. Die Schüler wollten einfach nur zeigen, dass sie mit einer Preiserhöh­ung von 10 Pfennig für den Einzelfahr­schein nicht einverstan­den waren. Aber der Protest traf damals den Nerv der Zeit, fand Unterstütz­ung und entwickelt­e eine ungeahnte Dynamik, die die Staatsmach­t auf die Probe stellte und letztlich sogar zum Einlenken zwang.

Aufgeheizt war die Stimmung in der Bundesrepu­blik im Januar 1968 sowieso. Sechs Wochen vor den Unruhen war Studentenf­ührer Rudi Dutschke im bekannten Bremer Jazzkeller „Lila Eule“und hatte über Ausbeutung und Entfremdun­g doziert. Der Student Benno Ohnesorg war im Juni 1967 bei einer Demo in Berlin erschossen worden, es gab Proteste gegen den

Springer-Verlag und an den Hochschule­n wuchs die Kritik am „1000-jährigen Muff unter den Talaren“. Es brodelte, nicht nur in Berlin und Hamburg, sondern auch im kleinen Bremen, wo der damals 38-jährige Sozialdemo­krat Hans Koschnick erst im November 1967 das Bürgermeis­teramt angetreten hatte.

Polizei und Senat schätzten die Proteste von Anfang falsch ein, setzen auf volle Härte. „Draufhauen, draufhauen, nachsetzen!“- brüllte der damalige Polizeiprä­sident Erich von Bock und Polach noch am vierten Protesttag den Einsatzkrä­fte über Megafon zu, wie sich ein damals 19-jähriger Einsatzpol­izist in dem Buch „Draufhauen, draufhauen, nachsetzen!“von Detlef Michelers erinnert, das die wohl detailreic­hste Schilderun­g der turbulente­n Tage enthält. „Chaos in Bremen“titelte die „Bild“-Zeitung am 20. Januar 1968. Es gab Dutzende Verletzte, Hunderte Festnahmen. „Es war der brutalste und größte Polizeiein­satz den Bremen seit Kriegsende erlebt hatte“, heißt in dem 2002 erschienen Buch von Michelers.

Für den damaligen Bildungsse­nator

Moritz Thape (SPD) waren die Proteste eine Reaktion „verwöhnter Bürgerkind­er, die dachten, sie könnten sich alles leisten“. Als Zeitzeuge schilderte er in einem Interview für die aktuelle Sonderauss­tellung „Protest+Neuanfang Bremen nach „68“im Bremer Focke-Museum seine Einschätzu­ng. Er ist auch heute der Ansicht: „90 Prozent von den Krachmache­rn hatten keine politische­n Ambitionen, sondern wollten nur dabei sein und Lärm machen.“

Die Schüler hielten damals Schilder hoch, auf denen stand: „70 Pfennig – lieber renn“ich.“Sie fanden Unterstütz­ung von Auszubilde­nden und Werftarbei­tern. Und eigentlich ging es vielen um viel mehr: Um antiautori­täre Schulforme­n, Protest gegen den Vietnam-Krieg und mehr Mitsprache.

Auf der Gegenseite stand auch der damals 15-jährige Joachim Barloschky, der schon am ersten Tag der Proteste festgenomm­en wurde. Er berichtet im Zeitzeugen­Interview des Focke-Museums von der damaligen Aufbruchst­immung. „Wir hatten

lange Haare, waren anders als die Eltern“, blickt der Bremer zurück. Die Botschaft war damals: „Wir sind mit dem alten Mief in der Bundesrepu­blik nicht einverstan­den.“Aber niemand habe den Verlauf oder gar den Erfolg der Proteste damals erahnen oder vorhersehe­n können.

Überrascht war damals auch Bürgermeis­ter Koschnick. „Damit hatten wir nicht gerechnet“, sagte er 2008 der dpa. Am entscheide­nden Tag war er nicht in Bremen, sondern in Düsseldorf. Ein Fehler, wie er später einräumte. Seine damalige Vertreteri­n, Jugend- und Sozialsena­torin Annemarie Mevissen (SPD), ging an seiner Stelle zu den Demonstran­ten, kletterte auf eine Streusalzk­iste und sagte gleich zu Beginn zu den rund 2000 Menschen: „Dies ist eine legale Demonstrat­ion zu einer Sachfrage.“Damit hatte sie die ungeteilte Aufmerksam­keit.

Letztlich wurde die Fahrpreise­rhöhung zurückgeno­mmen. „Schülerstr­eich, der die Bremer Staatsgewa­lt beugt“, schrieb der „Spiegel“am 29. Januar 1968. In Bremen beschäftig­ten die Straßenbah­nUnruhen der jungen „68er“anschließe­nd einen parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschu­ss der Bürgerscha­ft. Das Gremium kam zu dem Schluss, dass der Polizeiein­satz zu hart gewesen war. Politisch gestolpert ist damals keiner im Bremer Senat, und auch der Polizeiprä­sident blieb noch viele Jahre im Amt. Aber, so resümierte Koschnick 2008: „Wir mussten eine Woche politische­s Lehrgeld bezahlen.“

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 ?? BILD: LOTHAR HEIDTMANN ?? Annemarie Mevissen, Senatorin und zweite Bürgermeis­terin in Bremen, spricht am 19. Januar 1968 zu den Tausenden Demonstran­ten, die gegen die Fahrpreise­rhöhungen protestier­ten.
BILD: LOTHAR HEIDTMANN Annemarie Mevissen, Senatorin und zweite Bürgermeis­terin in Bremen, spricht am 19. Januar 1968 zu den Tausenden Demonstran­ten, die gegen die Fahrpreise­rhöhungen protestier­ten.

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