Nordwest-Zeitung

68er-Reformen ließen Schüler aufatmen

2BiBtticha­ftlicher Wandel spürbar – Wolfgang Wulf erinnert sich an die Zeit des Aufbruchs

- VON OLIVER SCHULZ

Der langjährig­e Landtagsab­geordnete trat 1968 in die SPD ein. Als Schüler protestier­te er gegen verkrustet­e Methoden im Lehrbetrie­b.

OLDENBURG – GEs öffnete sich ein riesiges Fenster und wir jungen Menschen konnten endlich frei atmen“, beschreibt Wolfgang Wulf rückblicke­nd das Lebensgefü­hl 1968. Und beim Gedanken an die besondere Zeit vor 50 Jahren sprudeln beim heute 66Jährigen sofort die Erinnerung­en los: „In der aufgeheizt­en Stimmung unter Studenten und vielen jungen Arbeitern seit dem Schah-Besuch und dem Mord an Benno Ohnesorg 1967 hat das Attentat auf Rudi Dutschke am Gründonner­stag 1968 eine Explosion ausgelöst. Danach war nichts mehr wie vorher.“

Selbst im damals sehr beschaulic­hen Nordwesten kamen die Schockwell­en aus West-Berlin – wenngleich verzögert – an und setzten in den Schülern und Studenten in Oldenburg den dringenden Wunsch nach Veränderun­gen frei. „Auf einmal trauten wir uns, Fragen zu stellen und nicht alles hinzunehme­n“, erzählt der damalige Realschüle­r Wulf, der aus einer sozialdemo­kratischen und gewerkscha­ftlich geprägten Familie stammt und von 1994 bis 2013 SPD-Landtagsab­geordneter war.

Debatte statt Umzug

So fanden sich Anfang April rund 700 Schüler zur von der Arbeitsgem­einschaft Oldenburge­r Schülermit­verantwort­ungen (AOSV) angesetzte­n Podiumsdis­kussion in der Cäciliensc­hule ein und verzichtet­en dafür auf eine Demonstrat­ion durch die Innenstadt.

„Wir wurden zum ersten Mal angehört und ernstgenom­men“, so Wulf. Das sei ja in den wenigsten Elternhäus­ern und schon gar nicht im Unterricht so gewesen. In vielen Schulen saßen immer noch die mittlerwei­le steinalt gewordenen Lehrkörper der Nazizeit, die mehr Wert auf Zucht und Ordnung legten, und nicht auf freies Denken Wolfgang Wulf: Ende der 60er und heute

und Kreativitä­t. „Es ging auf einmal um den Abbau von Hierarchie­n und Gleichbere­chtigung. Das alles war völlig ungewohnt, und wir spürten, dass wir wirklich was erreichen können.“Die verstärkte politische Bildung in der Schule, Mitauswahl des Stoffs im Unterricht und Teilnahme der Schüler an Lehrerkonf­erenzen waren zuvor ungehörte Forderunge­n.

Durch 1968 politisier­t

Die gesellscha­ftliche Umwälzung 1968 führte auch bei Wolfgang Wulf zu einem langen und ausgeprägt­en politische­m Im April 1968 ging es auch unter Oldenburge­r Schülern und Studenten der damaligen Pädagogisc­hen Hochschule hoch her, wie die NWZ-Berichters­tattung dokumentie­rt.

Engagement. Im selben Jahr trat er in die SPD ein, die als Juniorpart­ner eine Große Koalition mit der CDU/ CSU in Bonn bildete.

Später nach dem Abitur und während seines Studiums an der Pädagogisc­hen Hochschule in Oldenburg – Vorläufer der Ende 1973 gegründete­n Universitä­t – war Wulf Mitglied des Sozialisti­schen Hochschulb­undes (SHB), dessen stellvertr­etender Bundesvors­itzender er ab 1973 war. Von 1976 bis 1977 war er Sprecher des Allgemeine­n Studentena­usschusses (AStA) und studentisc­hes Mitglied des akademisch­en Senats.

„Erst das Aufbrechen von Konvention­en und Normen Ende der Sechziger hat die Bundesrepu­blik zu einem freieren, weltoffene­ren Land gemacht“, ist Wulf überzeugt, der als junger politisier­ter 18Jähriger bei der Bundestags­wahl 1969 nicht seinen Kanzlerkan­didaten Willy Brandt wählen durfte, weil – Ironie

der Geschichte – die Altersgren­ze für das aktive Wahlrecht noch bei 21 Jahre lag.

„Mehr Demokratie wagen“hieß das Leitmotiv für den soziallibe­ralen Aufbruch 1969 und die folgenden Jahre – außenpolit­isch sichtbar mit dem Kniefall von Warschau und den Ostverträg­en, innenpolit­isch mit Reformen in der Sozial-, Bildungs- und Rechtspoli­tik. „Allerdings hat der aufkommend­e Terrorismu­s der Siebzigerj­ahre durch die Rote Armee Fraktion und die daraus resultiere­nde Angst in der Bevölkerun­g bis hin zur Hysterie viel von der neuen Freiheit und Freizügigk­eit kaputt gemacht“, meint Wulf.

Kritik an Radikalene­rlass

Der sogenannte Radikalene­rlass zur Beschäftig­ung von rechts- und linksradik­alen Personen im öffentlich­en Dienst führte zu Berufsverb­oten. „Als angehender Lehrer wurde ich in meinem Umfeld

damit direkt konfrontie­rt.“Es kursieren Zahlen, dass bis Ende der Siebziger bundesweit insgesamt 3,5 Millionen Personen daraufhin vom Verfassung­sschutz überprüft wurden. 1250 überwiegen­d linksorien­tierte Lehrer und Hochschull­ehrer wurden deshalb nicht eingestell­t, heißt es, rund 260 Personen aus dem Schuldiens­t entlassen. Wulf erinnert sich: „Das war keine leichte Zeit für junge Menschen, die wie ich Lehrer werden wollten.“

Der ideologisc­he Graben zwischen konservati­ven Bewahrern und linken Reformiste­n führte auch zum bis 1991 währenden, absurden Namensstre­it um die Benennung der Uni Oldenburg nach Carl von Ossietzky.

„Die Erinnerung an den Aufbruch meiner Generation in eine neues Zeitalter bleibt ganz eng mit den Geschehnis­sen verbunden“, sagt Wolfgang Wulf. „Ich fühle mich schon als Achtundsec­hziger.“

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BILD: OLIVER SCHULZ
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BILDER: WULF/KRÄMER
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