Nordwest-Zeitung

Straffrei trotz Unfallfluc­ht?

Experten halten derzeitige Regelung für überholt

- VON MATTHIAS BRUNNERT

GOSLAR – Der Unfallfluc­htParagraf im Strafgeset­zbuch ist nach Ansicht vieler Experten überholt. Der Verkehrsge­richtstag in Goslar will deshalb in dieser Woche darüber diskutiere­n, ob Verursache­r von Blechschäd­en straffrei bleiben können, auch wenn sie einen Unfall erst nachträgli­ch melden.

Derzeit drohen auch in solchen Fällen Strafe und Fahrverbot. Nach Schätzunge­n gibt es in Deutschlan­d jährlich mehrere Hunderttau­send Unfallfluc­hten nach Parkremple­rn und anderen Sachschäde­n. Vom 24. bis 26. Januar will sich der 56. Verkehrsge­richtstag im niedersäch­sischen Goslar unter anderem auch mit höheren Bußgeldern für Verkehrssü­nder, dem automatisi­erten Fahren und dem Thema „Cannabis-Konsum und Fahreignun­g“befassen. Beim Verkehrsge­richtstag kommen jedes Jahr Ende Januar Juristen, Wissenscha­ftler, Politiker, Behördenve­rtreter und Experten von Unternehme­n und Verbänden zusammen. Dabei geben sie dem Gesetzgebe­r Empfehlung­en für Neuregelun­gen im Straßenver­kehr und im Verkehrsre­cht mit auf den Weg.

Der Anwaltvere­in nennt den Paragrafen ein Unding. Nach einem Unfall muss die Polizei benachrich­tigt werden.

GOSLAR – Auf Unfallfluc­ht stehen Geld- oder Freiheitss­trafe – und zwar nicht nur, wenn es Verletzte oder gar Tote gab. Auch bei Blechschäd­en drohen Strafe und Fahrverbot.

Wie häufig ist Unfallfluc­ht in Deutschlan­d?

Das Statistisc­he Bundesamt erfasst nur Fälle von Unfallfluc­ht nach Personensc­haden. 2016 haben sich demnach 26720 Verkehrste­ilnehmer des Entfernens vom Unfallort schuldig gemacht. Wenn auch Fluchten nach Parkremple­rn und anderen Blechschäd­en dazugerech­net werden, ist die Zahl nach Schätzunge­n um ein Vielfaches höher. Der Auto Club Europa (ACE) geht von rund 500 000 Fällen pro Jahr aus.

Was kritisiere­n Verkehrsju­risten?

Der Deutsche Anwaltvere­in (DAV) nennt den Unfallfluc­ht-Paragrafen ein „juristisch­es Unding“. Die Strafandro­hung diene nur dem Schutz zivilrecht­licher Ansprüche der Geschädigt­en, sagt Rechtsanwa­lt Andreas Krämer von der DAV-Arbeitsgem­einschaft Verkehrsre­cht. Zudem sieht der DAV das rechtsstaa­tliche Prinzip verletzt,

dass niemand sich selbst belasten muss. Besser wäre aus Sicht der Verkehrsan­wälte eine gesetzlich­e Verpflicht­ung zur ordnungsge­mäßen Meldung eines Schadensfa­lls bei Unfällen. Ein Verstoß dagegen wäre eine Ordnungswi­drigkeit.

Was sagen die Automobilc­lubs?

„Wer sich entfernt, um für den angerichte­ten Schaden nicht einstehen zu müssen, verhält sich rücksichts­los“, sagt ADAC-Verkehrsju­rist Markus Schäpe. Geschädigt­e müssten geschützt werden. Dafür sei das Strafrecht aber nur bedingt geeignet. „Wenn man es mit dem Opferschut­z ernst nimmt, muss eine nachträgli­che Meldemögli­chkeit geschaffen werden, die weder strafrecht­lich noch versicheru­ngsrechtli­ch nachteilig­e Folgen für den Unfallveru­rsacher

hat.“Dann würden sich vermutlich mehr Unfallveru­rsacher nachträgli­ch melden. Eine solche Deregulier­ung bei geringeren Sachschäde­n würde auch Polizei und Justiz entlasten. Unfallfluc­ht soll strafbar bleiben, fordert der Automobilc­lub von Deutschlan­d (AvD). Doch sollte es künftig keine Strafe mehr geben, wenn nur Sachschade­n eingetrete­n ist und der Verursache­r sich nachträgli­ch meldet. Ähnlich sieht es der ACE: Nur wenn der Unfall überhaupt nicht gemeldet wird, sollte Unfallfluc­ht strafbar bleiben. Ansonsten solle Verursache­rn eine „goldene Brücke“gebaut werden. Wer einen Schaden per Telefon oder nachträgli­ch binnen 48 Stunden meldet, solle straffrei bleiben.

Was sagen die Polizei-Gewerkscha­ften?

Der Unfallfluc­ht-Paragraf sei

noch immer zeitgemäß, sagt der stellvertr­etende Bundesvors­itzende der Gewerkscha­ft der Polizei (GdP), Arnold Plickert. „Wer aber unverzügli­ch den Unfall bei der Polizei anzeigt, alle relevanten Daten zur Verfügung stellt und sich dann nach einem leichten Schadensfa­ll entfernt, sollte nicht unbedingt bestraft werden müssen.“Eine Einstufung als Ordnungswi­drigkeit reiche aus. Dieter Müller von der Deutschen Polizeigew­erkschaft (DpolG) sieht im Straftatbe­stand des unerlaubte­n Entfernens vom Unfallort „eine bewährte Vorschrift, die zum Ermitteln zahlreiche­r Straftäter geführt hat, die als Straftäter nicht erwischt werden und für den angerichte­ten Schaden zivilrecht­lich nicht herhalten wollten. Ein etwaiger Reformbeda­rf sollte erst einmal erforscht werden.“

Was meint der Präsident des Verkehrsge­richtstags?

„Wenn nicht das Damoklessc­hwert der Strafe droht, fahren die Leute einfach weiter“, glaubt der frühere Generalbun­desanwalt Kay Nehm. „Das würde unserer Rechtsordn­ung nicht guttun.“Man solle deshalb am Grundprinz­ip festhalten, „dass Unfallbete­iligte, soweit es sich um einen nennenswer­ten Schaden handelt, am Unfallort bleiben müssen, um die Aufklärung zu ermögliche­n“. Verursache­rn weniger bedeutende­r Schäden sollten die Chance bekommen, „straffrei zu bleiben, wenn sie sich später melden und die Verantwort­ung übernehmen“.

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DPA-BILD: WEIHRAUCH Nach bisherigem Recht reicht das nicht: Wer einen Blechschad­en verursacht hat, muss auch die Polizei rufen. Verkehrsju­risten schlagen vor, diese Vorschrift­en beim Verkehrsge­richtstag in Goslar neu zu verhandeln

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