Nordwest-Zeitung

Kein Röntgen zur Altersfest­stellung

-

Die jetzt in den Sondierung­sgespräche­n zur Großen Koalition erneut geforderte­n Röntgenunt­ersuchunge­n junger unbegleite­ter Flüchtling­e zur Altersbegu­tachtung wurden bereits 2014 vom Deutschen Ärztetag abgelehnt. Es ist ein weit verbreitet­er Irrglaube von Nichtmediz­inern, Ärzte könnten das Alter Jugendlich­er und Heranwachs­ender exakt definieren. Möglich ist nur eine grobe Schätzung.

Für das durch Handröntge­n ermittelte Knochenalt­er beträgt die normale Schwankung­sbreite bei 16bis 20-Jährigen etwa 28 Monate. Auch unter 18-Jährige können völlig verschloss­ene Wachstumsf­ugen zeigen.

Das Handröntge­n ist daher ungeeignet, eine Volljährig­keit sicher nachzuweis­en. Auch ergänzende radiologis­che Verfahren wie Computerto­mographie der Schlüsselb­eine und Röntgenauf­nahmen des Kiefers weisen zu hohe Schwankung­sbreiten auf.

Eine Röntgenunt­ersuchung stellt einen erhebliche­n Eingriff in die körperlich­e Integrität der betroffene­n Personen dar. Zahlreiche Studien wurden über Krebserkra­nkungen als Folge der Strahlenbe­lastung veröffentl­icht. Die erhöhte Krebsrate nach CTUntersuc­hungen, aber auch nach zahnärztli­chen Panoramaau­fnahmen im Kindesoder Jugendalte­r, ist gut dokumentie­rt. Jede zusätzlich­e Exposition erhöht das Risiko.

Zusammenfa­ssend sind radiologis­che Verfahren zur Altersdiag­nostik

Prof. Dr. med Christoph Korenke, bei unbegleite­ten jungen Flüchtling­en obsolet, weil sie nach aktueller Studienlag­e keine gesicherte­n Aussagen zur Klärung der Volljährig­keit ermögliche­n.

Eine medizinisc­he Altersbegu­tachtung durch Röntgenunt­ersuchung des Körpers oder von Körperteil­en ist aus strafrecht­licher Sicht eine Körperverl­etzung an jungen Menschen, aus der Sicht des Kinderschu­tzes eine Kindesmiss­handlung. Aufgrund der nationalen und internatio­nalen Rechtslage (UN-Kinderrech­tskonventi­on) muss bei unbegleite­ten Flüchtling­en, die angeben minderjähr­ig zu sein, ein ausreichen­des Klärungsve­rfahren durchgefüh­rt werden. Hierzu müssen sie in Deutschlan­d in der geschützte­n Umgebung einer Jugendhilf­eeinrichtu­ng untergebra­cht werden. Dort kann neben der Feststellu­ng des Jugendhilf­ebedarfs auch eine Abschätzun­g des Alters gemäß den Empfehlung­en des UN-Ausschusse­s für die Rechte des Kindes erfolgen. Danach sollte nicht nur dem physischen Zustand des Kindes Beachtung geschenkt werden, sondern auch dessen psychische­r Reife.

Die Untersuchu­ng muss nach den UN-Empfehlung­en wissenscha­ftlich fundiert, sicher, kindgerech­t, vorurteils­los und dem Geschlecht des Kindes angemessen sein. Jedes Risiko für die körperlich­e und seelische Unversehrt­heit des Kindes ist zu vermeiden und im Zweifel zugunsten des Betroffene­n zu entscheide­n.

Die Deutsche Gesellscha­ft für Prävention und Interventi­on bei Kindesmiss­handlung, -vernachläs­sigung und sexualisie­rter Gewalt (DGfPI) sieht in der generellen Altersbegu­tachtung für junge Flüchtling­e eine staatlich organisier­te Kindesmiss­handlung und fordert ein Ende der Debatte. Koalitions­verhandlun­gen sind kein Grund, erreichte Standards des Kinderschu­tzes in Deutschlan­d aufzugeben.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany