Hartes Ringen um Kompromiss
Verhandlungen bis tief in die Nacht
BERLIN – Unter hohem Einigungsdruck haben Union und SPD in der Schlussrunde der Koalitionsverhandlungen um Kompromisse in der Gesundheitsund Arbeitsmarktpolitik gerungen. Bis zum späten Abend war am Dienstag auch die Außenpolitik noch strittig. Trotzdem betonten alle Seiten ihren festen Willen die Gespräche in der Nacht zu Mittwoch oder spätestens am Morgen abzuschließen. SPDChef Martin Schulz sprach vom „Tag der Entscheidung“.
CDU-Chefin Angela Merkel
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mahnte alle Seiten zu Kompromissbereitschaft: „Jeder von uns wird schmerzhafte Kompromisse noch machen müssen. Dazu bin ich auch bereit, wenn wir sicherstellen können, dass die Vorteile zum Schluss die Nachteile überwiegen.“Es gehe darum, mit einer verlässlichen Regierung die Voraussetzungen dafür zu schaffen, „dass wir morgen auch noch in Wohlstand und in Sicherheit im umfassenden Sinne leben können“. Dieses Ziel dürfe man gerade in unsicheren Zeiten nicht aus den Augen verlieren.
Den Unterhändlern lag am Dienstagnachmittag noch eine Liste mit gut einem Dutzend Dissenspunkten vor. In der Außenpolitik ging es um Rüstungsexporte sowie die Ausgaben für die Bundeswehr und die Entwicklungshilfe. Die größten Streitpunkte lagen aber bis zuletzt in der Gesundheitsund Arbeitsmarktpolitik.
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Derzeit beschäftigt das SPD-Mitgliedervotum das Verfassungsgericht. Darf die SPD überhaupt über die Gro<o abstimmen lassen=
463723 Sozialdemokraten können über den geplanten Koalitionsvertrag mit der Union abstimmen. Seit Neujahr seien 24 339 Neumitglieder dazugekommen, teilte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil am Dienstagabend mit – auch, weil Gegner einer neuen Großen Koalition mit „Tritt ein, sag nein!“geworben haben. Allein in Niedersachsen traten 2467 Menschen in die Partei ein, sagte Landesverbands-Sprecher Axel Rienhoff. Das entspricht einem Zuwachs von 4,3 Prozent.
Die Sozialdemokraten geben sich gelassen
Bis 18 Uhr mussten die Neuzugänge im Mitgliederverzeichnis stehen, damit sie in den kommenden drei Wochen über einen Koalitionsvertrag mit CDU und CSU abstimmen dürfen. Man kann darüber diskutieren, ob es demokratisch ist oder nicht, dass die SPD-Basis über die Koalition entscheidet. Ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, prüft derzeit das Bundesverfassungsgericht.
Wie schon 2013 gibt es rechtliche Bedenken und Zweifel, ob dieses Verfahren im Einklang mit dem Grundgesetz steht. Von den fünf Verfassungsbeschwerden, die den Richtern aktuell vorliegen, wurden zwei bereits abgelehnt, sagte ein Sprecher am Dienstag dieser Zeitung.
Darf die SPD überhaupt die Mitglieder über die Große Koalition abstimmen lassen? „Sie darf, sie kann, sie wird“, sagte Johannes Kahrs, Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises der SPD. Die Sozialdemokraten geben sich gelassen.
Schon vor fünf Jahren hatte Karlsruhe verfassungsrechtliche Bedenken zurückgewiesen. Parteien seien nicht Teil des Staates und daher auch keine öffentliche Gewalt. Somit könne auch keine Verfassungsbeschwerde gegen sie eingelegt werden, begründeten die Richter damals ihre Entscheidung. Auch seien Bundestagsabgeordnete nicht nur ihrem Gewissen verpflichtet, sondern auch der Fraktionsdisziplin, hieß es. Das Votum konnte stattfinden. Die Basis der Genossen stimmte schließlich mit klarer Mehrheit für die Groko.
Damals wie heute hielten die Antragsteller das freie Mandat und die freie Entscheidung der Abgeordneten durch das Mitgliedervotum für unzulässig eingeschränkt. Auch Rechtsexperten zweifeln daran, ob die Mitgliederbefragung dem Geist des Grundgesetzes entspricht. So sagte der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, HansJürgen Papier, die Regierungsbildung sei Angelegenheit der Bundestagsabgeordneten und nicht der Parteien.
Am Mitgliederentscheid hängt nicht nur die Zukunft der Großen Koalition. Auch die Karriere von SPD-Chef Martin Schulz ist eng mit dem Votum der Basis verknüpft. Die Mehrheit der Deutschen ist laut einer Umfrage gegen einen Einzug von Schulz als Minister in das Kabinett. 54 Prozent seien gegen ein Ministeramt für den SPD-Chef, ermittelte das Forsa-Institut.
Es geht vor allem um Schulz’ Glaubwürdigkeit. Er schloss nicht nur den Gang in eine erneute Große Koalition aus, sondern betonte nach der Bundestagswahl auch: „In eine Regierung von Angela Merkel werde ich nicht eintreten.“Trotz seiner deutlichen Wiederwahl zum Parteichef im Dezember ist er inzwischen schwer angeschlagen – bedenklich viele aus der Führungsriege zweifeln inzwischen an ihm.
Trotzdem: Schulz hat das erste Zugriffsrecht auf den Posten des Vizekanzlers. Um seine Macht zu sichern, könnte er erklären, er gehe in das Kabinett, um sein Herzensthema „Mehr Europa zu wagen“als Außenminister und stellvertretender Regierungschef voranzubringen. Und er bliebe Parteivorsitzender.
Es gibt aber auch Spekulationen, dass er beim Gang in das Kabinett zur Aufgabe des Vorsitzes bewegt werden könnte – damit jemand anderes nach den Erneuerungsprozess der SPD vorantreibt. 2005 trat Franz Müntefering mitten in den Koalitionsverhandlungen wegen der Ablehnung seines Generalsekretärskandidaten Kajo Wasserhövel als Parteichef zurück, wurde aber Arbeitsminister und Vizekanzler.
Die Lage könnte aus dem Ruder laufen
Möglich ist auch, dass Schulz „nur“Minister wird und jemand anderes Vizekanzler, um sich besser um die Parteiarbeit kümmern zu können. Das gilt aber als unwahrscheinlich.
Wenn Schulz sich aber nicht erklärt, wenn sein Schlingerkurs eine Zustimmung zum Koalitionsvertrag gefährden könnte oder wenn es im Vorstand zur Machtfrage kommt, könnte die Lage aus dem Ruder laufen. Denn viele sehen das Risiko von weit aus mehr Nein-Stimmen beim geplanten Basis-Votum, wenn Schulz nicht vorher sagt, was er vorhat.