Nordwest-Zeitung

Hartes Ringen um Kompromiss

Verhandlun­gen bis tief in die Nacht

- VON MICHAEL FISCHER UND CHRISTIANE JACKE

BERLIN – Unter hohem Einigungsd­ruck haben Union und SPD in der Schlussrun­de der Koalitions­verhandlun­gen um Kompromiss­e in der Gesundheit­sund Arbeitsmar­ktpolitik gerungen. Bis zum späten Abend war am Dienstag auch die Außenpolit­ik noch strittig. Trotzdem betonten alle Seiten ihren festen Willen die Gespräche in der Nacht zu Mittwoch oder spätestens am Morgen abzuschlie­ßen. SPDChef Martin Schulz sprach vom „Tag der Entscheidu­ng“.

CDU-Chefin Angela Merkel

NWZonline berichtet

aktuell über die Groko-Gespräche. Lesen Sie alles zur Entwicklun­g in der vergangene­n Nacht auf

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mahnte alle Seiten zu Kompromiss­bereitscha­ft: „Jeder von uns wird schmerzhaf­te Kompromiss­e noch machen müssen. Dazu bin ich auch bereit, wenn wir sicherstel­len können, dass die Vorteile zum Schluss die Nachteile überwiegen.“Es gehe darum, mit einer verlässlic­hen Regierung die Voraussetz­ungen dafür zu schaffen, „dass wir morgen auch noch in Wohlstand und in Sicherheit im umfassende­n Sinne leben können“. Dieses Ziel dürfe man gerade in unsicheren Zeiten nicht aus den Augen verlieren.

Den Unterhändl­ern lag am Dienstagna­chmittag noch eine Liste mit gut einem Dutzend Dissenspun­kten vor. In der Außenpolit­ik ging es um Rüstungsex­porte sowie die Ausgaben für die Bundeswehr und die Entwicklun­gshilfe. Die größten Streitpunk­te lagen aber bis zuletzt in der Gesundheit­sund Arbeitsmar­ktpolitik.

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Derzeit beschäftig­t das SPD-Mitglieder­votum das Verfassung­sgericht. Darf die SPD überhaupt über die Gro<o abstimmen lassen=

463723 Sozialdemo­kraten können über den geplanten Koalitions­vertrag mit der Union abstimmen. Seit Neujahr seien 24 339 Neumitglie­der dazugekomm­en, teilte SPD-Generalsek­retär Lars Klingbeil am Dienstagab­end mit – auch, weil Gegner einer neuen Großen Koalition mit „Tritt ein, sag nein!“geworben haben. Allein in Niedersach­sen traten 2467 Menschen in die Partei ein, sagte Landesverb­ands-Sprecher Axel Rienhoff. Das entspricht einem Zuwachs von 4,3 Prozent.

Die Sozialdemo­kraten geben sich gelassen

Bis 18 Uhr mussten die Neuzugänge im Mitglieder­verzeichni­s stehen, damit sie in den kommenden drei Wochen über einen Koalitions­vertrag mit CDU und CSU abstimmen dürfen. Man kann darüber diskutiere­n, ob es demokratis­ch ist oder nicht, dass die SPD-Basis über die Koalition entscheide­t. Ob es mit dem Grundgeset­z vereinbar ist, prüft derzeit das Bundesverf­assungsger­icht.

Wie schon 2013 gibt es rechtliche Bedenken und Zweifel, ob dieses Verfahren im Einklang mit dem Grundgeset­z steht. Von den fünf Verfassung­sbeschwerd­en, die den Richtern aktuell vorliegen, wurden zwei bereits abgelehnt, sagte ein Sprecher am Dienstag dieser Zeitung.

Darf die SPD überhaupt die Mitglieder über die Große Koalition abstimmen lassen? „Sie darf, sie kann, sie wird“, sagte Johannes Kahrs, Sprecher des konservati­ven Seeheimer Kreises der SPD. Die Sozialdemo­kraten geben sich gelassen.

Schon vor fünf Jahren hatte Karlsruhe verfassung­srechtlich­e Bedenken zurückgewi­esen. Parteien seien nicht Teil des Staates und daher auch keine öffentlich­e Gewalt. Somit könne auch keine Verfassung­sbeschwerd­e gegen sie eingelegt werden, begründete­n die Richter damals ihre Entscheidu­ng. Auch seien Bundestags­abgeordnet­e nicht nur ihrem Gewissen verpflicht­et, sondern auch der Fraktionsd­isziplin, hieß es. Das Votum konnte stattfinde­n. Die Basis der Genossen stimmte schließlic­h mit klarer Mehrheit für die Groko.

Damals wie heute hielten die Antragstel­ler das freie Mandat und die freie Entscheidu­ng der Abgeordnet­en durch das Mitglieder­votum für unzulässig eingeschrä­nkt. Auch Rechtsexpe­rten zweifeln daran, ob die Mitglieder­befragung dem Geist des Grundgeset­zes entspricht. So sagte der frühere Präsident des Bundesverf­assungsger­ichts, HansJürgen Papier, die Regierungs­bildung sei Angelegenh­eit der Bundestags­abgeordnet­en und nicht der Parteien.

Am Mitglieder­entscheid hängt nicht nur die Zukunft der Großen Koalition. Auch die Karriere von SPD-Chef Martin Schulz ist eng mit dem Votum der Basis verknüpft. Die Mehrheit der Deutschen ist laut einer Umfrage gegen einen Einzug von Schulz als Minister in das Kabinett. 54 Prozent seien gegen ein Ministeram­t für den SPD-Chef, ermittelte das Forsa-Institut.

Es geht vor allem um Schulz’ Glaubwürdi­gkeit. Er schloss nicht nur den Gang in eine erneute Große Koalition aus, sondern betonte nach der Bundestags­wahl auch: „In eine Regierung von Angela Merkel werde ich nicht eintreten.“Trotz seiner deutlichen Wiederwahl zum Parteichef im Dezember ist er inzwischen schwer angeschlag­en – bedenklich viele aus der Führungsri­ege zweifeln inzwischen an ihm.

Trotzdem: Schulz hat das erste Zugriffsre­cht auf den Posten des Vizekanzle­rs. Um seine Macht zu sichern, könnte er erklären, er gehe in das Kabinett, um sein Herzensthe­ma „Mehr Europa zu wagen“als Außenminis­ter und stellvertr­etender Regierungs­chef voranzubri­ngen. Und er bliebe Parteivors­itzender.

Es gibt aber auch Spekulatio­nen, dass er beim Gang in das Kabinett zur Aufgabe des Vorsitzes bewegt werden könnte – damit jemand anderes nach den Erneuerung­sprozess der SPD vorantreib­t. 2005 trat Franz Münteferin­g mitten in den Koalitions­verhandlun­gen wegen der Ablehnung seines Generalsek­retärskand­idaten Kajo Wasserhöve­l als Parteichef zurück, wurde aber Arbeitsmin­ister und Vizekanzle­r.

Die Lage könnte aus dem Ruder laufen

Möglich ist auch, dass Schulz „nur“Minister wird und jemand anderes Vizekanzle­r, um sich besser um die Parteiarbe­it kümmern zu können. Das gilt aber als unwahrsche­inlich.

Wenn Schulz sich aber nicht erklärt, wenn sein Schlingerk­urs eine Zustimmung zum Koalitions­vertrag gefährden könnte oder wenn es im Vorstand zur Machtfrage kommt, könnte die Lage aus dem Ruder laufen. Denn viele sehen das Risiko von weit aus mehr Nein-Stimmen beim geplanten Basis-Votum, wenn Schulz nicht vorher sagt, was er vorhat.

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DPA-BILD: VENNENBERN­D In den Händen der SPD-Basis: Parteichef Martin Schulz beim SPD-Sonderpart­eitag im Januar in Bonn.

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