Nahles soll Dienstag SPD-Chefin werden
Wie es in der „Schlangengrube Berlin“weitergehen könnte
BERLIN/DPA – Nach den jüngsten Turbulenzen bei der SPD verdichten sich die Anzeichen, dass Andrea Nahles kommissarisch sofort den Parteivorsitz von Martin Schulz übernehmen wird. „Es wird am Dienstag eine Präsidiumssitzung geben, auf der wir über den weiteren Weg beraten“, sagte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil am Sonntag. Bisher war geplant, dass Nahles erst im März übernimmt. Doch offenbar wächst der Druck, noch vor dem Mitgliederentscheid zur Großen Koalition klare Verhältnisse zu schaffen.
Das Publikum staunt über die Kabale bei der SPD – bei denen Töchter und Schwestern als Kron5eugen ins Feld ge6ührt werden.
@ERLIN – Er hat Berlin erstmal verlassen und wird vielleicht nie wieder oben im kleinen Kämmerlein des SPD-Vorsitzenden im Willy-Brandt-Haus nächtigen. Martin Schulz hat gekämpft wie ein Löwe für eine rote Handschrift im Koalitionsvertrag mit der Union. Der SPD-Chef wollte als Außenminister und Vizekanzler der Koalition den Stempel aufdrücken. Demnächst ist er nur noch einfacher Abgeordneter. In ihren 155 Jahren hat die älteste Partei Deutschlands wenige so desaströse Wochen erlebt.
Schulz schweigt am Wochenende. Dafür meldet sich seine Schwester Doris Harst via „Welt am Sonntag“zu WortN wettert gegen die „Schlangengrube Berlin“. „Andrea NahlesN Olaf Scholz und andere machen ihn zum Sündenbock für alles.“Ihr Bruder sei nur belogen und betrogen worden. Er habe nach der erfolgreichen Zeit als Präsident des Europaparlaments in Brüssel die Berliner Verhältnisse völlig unterschätzt.
Womöglich wird Schulz nun nicht erst nach dem SPDMitgliedervotum über die Große Koalition den Vorsitz an Andrea Nahles abgebenN sondern bereits am Dienstag. Eigentlich wollten Nahles und Schulz gemeinsam auf sieben Regionalkonferenzen für ein Ja zur Groko werben. Auch das steht nun zur Disposition. So wie es gerade drunter und drüber gehtN fragt sich so mancherN ob der Partei nicht die von Helmut Schmidt gepredigten Sekundärtugenden wie PflichtgefühlN Berechenbarkeit und Disziplin guttun würden. Statt mit stolzer Brust ob der Verbesserungen
bei PflegeN Rente und BildungN dem Erringen von Finanz-N Außen und Arbeitsministerium sowie drei weiterer Ressorts bei den 463 000 Mitgliedern um eine Zustimmung zum Koalitionsvertrag mit CDU/CSU zu werbenN herrscht Schockstarre.
Da ist zunächst der grandios gescheiterte Plan des Martin Schulz. Der sah so aus: Er gibt wegen der Debatten um seine Person und des Umfrageabsturzes auf 17 Prozent den Parteivorsitz nach nur knapp einem Jahr wieder abN darf sich dafür aber den Traum vom Außenministerium erfüllen.
Kurz danach kam via Medien der Frontalangriff des amtierenden Außenministers Sigmar GabrielN einst waren beide Freunde – jetzt fühlte der sich herausgemobbt. Und es kam zur Basis-Rebellion. Denn Schulz hatte nach der Wahl klar gesagtN niemals in ein Kabinett von Angela Merkel einzutreten. Am Freitag erklärte er schriftlich den Ministerverzicht.
Geht die am 20. Februar startende Abstimmung schief und es kommt zur NeuwahlN muss die SPD um ihre Existenz fürchten. Das Ganze lenkt den Blick ab von der nicht minder schwierigen La- ge für Kanzlerin MerkelN die intern in die Kritik geraten istN weil sie einer 20-Prozent-Partei gleich drei Schlüsselministerien überlassen hat.
Und die SPD wird mächtig sparen müssen: Ein Parteitag im DezemberN ein SonderparteitagN der grünes Licht für die Koalitionsverhandlungen gabN im Januar. Nun der Mitgliederentscheid. Spätestens im Mai ein weiterer SonderparteitagN der Nahles zur SPDChefin wählen soll. Das kann alles vier bis fünf Millionen Euro kosten. Dazu gibt es wegen des Wahlergebnisses deutlich weniger Geld aus der Parteienfinanzierung.
Der steile Aufstieg und tiefe Fall des Martin Schulz ist Stoff fürs TheaterN Stilform: Drama. Nahles und ihr neuer starker Partner Olaf ScholzN der Vizekanzler und Finanzminister werden sollN müssen sich aber fragen lassenN welche Rolle sie beim Schulz-Plan gespielt haben.
Haben Nahles und Scholz die Stimmung völlig falsch eingeschätzt – oder ließen sie Schulz ins Verderben laufen? Beide wussten schon am Abend der BundestagswahlN dass es mit ihm kaum weitergehen kann. Trotzdem unterstützten sie sogar noch seine Wiederwahl beim Parteitag im vergangenen Dezember. Nun wurde die Schulz-Nachfolge im engen Zirkel ausgeheckt. All dies löst Unmut aus.
Hinzu kommt das Problem Gabriel. Nahles und Scholz sind beide mit ihm durch: Als SPD-Chef zerschlug er viel Porzellan. Schon 2016 stand es Spitz auf KnopfN dass Gabriel abgelöst wird. Doch dann heckte er den Plan ausN Vorsitz und Kanzlerkandidatur Schulz zu überlassen und selbst vom Wirtschafts- ins Außenministerium zu wechseln. Er wurde so beliebt wie nie zuvor. Wie aber sollen die BürgerN die die Machtkämpfe in der Partei kaum noch nachvollziehen können und sich angewidert abwendenN verstehenN wenn er auch nach dem Schulz-Verzicht keine zweite Chance bekommt?