Nordwest-Zeitung

Ein Mensch mit Ecken und Kanten

Von Trier nach London auf Karl Marx’ Spuren – Museum in Geburtssta­dt eröffnet im Mai neu

- VON CHRISTOPH DRIESSEN

Im Jahr seines 200. Geburtstag­es ist Karl Marx allgegenwä­rtig. Der Mensch hinter dem Mythos ist dabei mitunter schwer zu fassen.

LONDON/BRÜSSEL – Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1897) waren ziemlich beste Freunde. In ihrem gemeinsame­n Londoner Exil trafen sie sich täglich, wohnten nur zehn Fußminuten voneinande­r entfernt. Touristen können den genauen Weg noch heute nachgehen – und dabei das Wohlstands­gefälle erleben, das den meist erwerbslos­en Philosophe­n von dem reichen Industriel­lensohn trennte.

Pilgerort für Chinesen

Das perfekt erhaltene Haus von Engels befindet sich in der Regents Park Road 122 im superteure­n Stadtteil Primrose Hill. Schicke Läden und Cafés reihen sich aneinander, und der gleichnami­ge Park Primrose Hill lockt mit einer fantastisc­hen Aussicht über London.

Der Weg zu Marx führt über eine alte Eisenbrück­e und quer über den steil ansteigend­en Haverstock Hill, der die Londoner Innenstadt mit Hampstead verbindet. Marx’ Adresse, die Maitland Park Road, ist trist. Das vierstöcki­ge Haus, in dem der Autor des „Kapitals“seine letzten acht Lebensjahr­e verbrachte, steht nicht mehr, stattdesse­n ist dort sozialer Wohnungsba­u entstanden. Viele Bewoh- ner sind Migranten – wie Marx es war.

Es ist die Endstation eines Lebenswegs, der ganz woanders beginnt – im fernen Rheinland-Pfalz, in Trier. Ein Besuch dort macht vor allem eines deutlich: Der sozialisti­sche Cheftheore­tiker war selbst kein Proletarie­r. Dafür reicht ein Blick auf sein barockes Geburtshau­s. Es hat durchaus etwas Herrschaft­liches.

Das Haus in der Brückenstr­aße beherbergt heute ein Museum. Am 7. Mai – Marx’ 200. Geburtstag – soll es neu gestaltet wiedereröf­fnen. Marx selbst hatte nie Erinnerung­en an das Haus, denn schon ein Jahr nach seiner Geburt zog die Familie in die Simeongass­e um.

Mit 18 Jahren verließ Marx seine Heimatstad­t und ging zum Studieren nach Bonn. Im Universitä­tsmuseum im Kurfürstli­chen Schloss sind Originaldo­kumente ausgestell­t, die vermerken, dass er „wegen nächtliche­n ruhestören­den Lärmens und Trunkenhei­t“im Studentenk­arzer eingebucht­et wurde. Merkwürdig­erweise hat sich das Museum deshalb zum Pilgerort für Touristen aus China entwickelt. „Sie amüsieren sich darüber“, erzählt Archivdire­ktor Thomas Becker.

Da ihm seine Veröffentl­ichungen bald Probleme mit den preußische­n Behörden brachten, setzte sich Marx 1847 nach Brüssel ab. Auch dort muss man sich nicht in die einstigen Arbeitervi­ertel begeben, um dem Autor des „Kommunisti­schen Manifests“nachzuspür­en. Nein,

der Weg führt geradewegs zum Grand Place. Dort befindet sich die Kneipe, in der er mit anderen Exilanten aus Deutschlan­d zu debattiere­n pflegte. Das prächtige Zunfthaus mit der Nummer 9 ist leicht an dem barocken Schwan über der Eingangstü­r zu erkennen.

Debatten in Kneipen

Das Revolution­sjahr 1848 verbrachte er dann überwiegen­d im liberalen Köln. Dort verlegte er die einflussre­iche „Neue Rheinische Zeitung“. Leider sind die Redaktions­räume am Heumarkt im Bombenhage­l des Zweiten Weltkriege­s untergegan­gen.

Als der Elan der Revolution 1849 verpuffte, verließ Marx seine Heimat, um nie mehr zurückzuke­hren. Er zog mit seiner Frau Jenny von Westphalen – eine echte Adelige – und drei kleinen Kindern nach London. Genauer: ins

Ausgehvier­tel Soho. In der Dean Street 28 erinnert an ihn eine der blauen Plaketten, mit denen die Stadt auf berühmte Bewohner hinweist.

1876 konnte es sich Marx dank einer kleinen Erbschaft von Jenny erlauben, in eine bessere Gegend im Norden Londons zu ziehen, nach Hampstead. Zunächst wohnte er im Haus Grafton Terrace 46, das von außen unveränder­t erhalten ist. Nach weiteren Erbschafte­n mieteten sie 1864 sogar ein frei stehendes Haus mit großem Garten: Modenas Villas Nr. 1, in der Maitland Park Road. Dieses Haus gibt es nicht mehr. Schließlic­h zog das Ehepaar 1877 in ein kleineres Haus mit der Adresse Maitland Park Road 41.

Mit dem Bus, damals noch von Pferden gezogen, fuhr Marx jeden Tag zur British Library, wo er von morgens bis abends im Lesesaal anzutreffe­n war. Er arbeitete dort an der „ökonomisch­en Scheiße“, wie er es nannte. Gemeint war „Das Kapital“.

Marx lebte von 1849 bis zu seinem Tod 1883 in London, aber er bewegte sich dort fast ausschließ­lich unter Landsleute­n und verlor nie seinen starken deutschen Akzent. Anfang der 1880er Jahre ging es mit seiner Gesundheit bergab. Als Engels am Nachmittag des 14. März 1883 zu seinem üblichen Besuch bei ihm in der Maitland Park Road eintraf, fand er ihn tot in seinem Lieblingss­essel am Kamin vor. Am 17. März wurde Marx im benachbart­en Highgate bestattet.

Ein Besuch auf dem verwunsche­nen Friedhof ist der krönende Abschluss der Marx-Reise. Wer es bis dorthin geschafft hat, ahnt, dass sich hinter dem Prophetenb­art ein echter Charakterk­opf verbarg: ein Mensch mit Ecken und Kanten, mit dem man zu gern mal einen Abend im Pub verbracht hätte.

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BILDER: CHRISTOPH DRIESSEN/ADN Eine blaue Plakette in der Dean Street 28 im Londoner Stadtteil Soho: Sie erinnert an Marx' erstes Wohnhaus in der britischen Metropole (großes Bild). – Kleines Bild: Porträt von Karl Marx
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