Was die Polizei-Statistik verrät – und was nicht
Zmmer häufiger werden die Beamten Opfer von Gewalt – Ungewöhnlicher Solidarisierungseffekt bei <insätzen
Die Wertigkeit der Taten verändert sich – das ist auch gesamtgesellschaftlich zu spüren. Unterstützung soll es für die Behörden bald geben.
OLDENBURG – „Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst fälschen kannst“, hatte der erste Kritiker am Freitag schon kurz nach Veröffentlichung der polizeilichen Jahresstatistik die „niedrigste Zahl an Straftaten seit 30 Jahren“provokant, vor allem aber polemisch kommentiert. Nicht nur in den Sozialen Medien, auch in der Stadtgesellschaft hat sich die Diskussion ob echter Wahrheiten und angeblicher Verschleierungstaktiken der Behörden verschärft. Sicherlich ein Grund für die enorme Diskrepanz von Bauchgefühl und tatsächlichen Zahlen ist die Verschiebung der öffentlichen Wahrnehmung. Wir haben die vorgelegten Oldenburger Daten aus dem Jahr 2017 analysiert und erläutern diese Werte.
DIE ZAHLEN
Es handelt sich um die niedrigste Zahl an bekannten Straftaten in der Stadt seit rund drei Jahrzehnten, wie Polizeichef Eckhard Wache erklärt. Das klingt gut. Zumal die Oldenburger Bevölkerung in den vergangenen 30 Jahren ja sogar in fünfstelliger Zahl angewachsen ist. „Das Risiko, hier Opfer einer Straftat zu werden, ist gesunken“, heißt es da. Das mag stimmen, rein rechnerisch zumindest. Allein die Zahl der (gemeldeten) Fahrraddiebstähle ist um etwa ein Viertel zurückgegangen. Tatsächlich deutet der Blick hinter die bloße Statistik aber schon an, dass dieser Rückgang wenig Einfluss auf das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung haben mag. Denn die Menschen fürchten sich hier in erster Linie nicht vor einem Fahrraddiebstahl, sondern vor einer Gefahr für Leib und Leben. Insofern müssen diese Zahlen differenzierter betrachtet werden.
DIE GROßEN VORFÄLLE
Die tödlichen Schüsse an der Nadorster Straße, die brutalen Überfälle am Lappan, der Steinwurf auf der Autobahn, der SEK-Einsatz am Lerigauweg wegen Waffenbesitzes. All das ist aus dem Jahr 2017 in Erinnerung geblieben – weil sie abseits der Norm geschahen und deshalb für erhebliche Aufmerksamkeit sorgten. Nicht weiter gedanklich verankert bleiben da jedoch die vielen hundert Körperverletzungen, die alljährlich bei Stadtfest, Kramermarkt oder auf der Partymeile geschehen. Beispiele? Da waren die beiden Oldenburgerinnen, die sich vor einem Schnellimbiss aufs Übelste in den Haaren hatten. Die Jungs, die sich im Streit und stark alkoholisiert in der Wallstraße prügelten. Und so weiter und so fort. Jedes Wochenende aufs Neue. Diese hat es aber auch schon vor fünf, vor zehn, vor zwanzig Jahren gegeben.
DIE FAHRRÄDER
1591 gestohlene Fahrräder waren’s im vergangenen Jahr – das macht rund 500 Exemplare weniger als noch vor einem Jahr. Doch es gibt ein Aber: Fahrräder werden im7747
mer seltener registriert, können also bei einem Fund nur schwerlich den Besitzern und einem etwaigen Diebstahl zugeordnet werden. Noch seltener wird der Verlust des eigenen Fahrrads angezeigt. Ein Beispiel: Von einem riesigen Schwung entsorgter Fahrräder, die im vergangenen Jahr in den Gewässern der Stadt gefunden wurden, war lediglich ein Bruchteil registriert. Da kann die Fahrrad-Ermittlergruppe der Polizei noch so gute Arbeit leisten – ein Jubel ob derart niedriger Zahlen tut nicht not.
RAUSCHGIFTDELIKTE
Einen leichten Rückgang (von 691 auf 680) verzeichnet die Polizei bei der Ermittlung von Rauschgiftdelikten. Das allerdings steht im deutlichen Missverhältnis zu den Warnungen und Vermutungen, die im Verlauf des Jahres von gleicher Seite kamen. Woran das liegt? Nun, bei besagten Drogendelikten handelt es sich um eine sogenannte „Holkriminalität“– also um Fälle, die nur durch Kontrollen und Ermittlungen der Polizei aufgedeckt werden. Sprich: Je mehr Polizisten auf diesem Gebiet aktiv sind, desto mehr Funde gibt es auch. Im Umkehrschluss bedeutet es, dass die Polizei – wider besserer Ergebnisse – weniger Personal zur Ermittlung einsetzen konnte. Zudem ziehen Verfahren zu jedem ermittelten Dealer einen enormen Rattenschwanz nach sich. Das aber führt mit weniger Personal zu noch weniger Kontrollen. Jubel? Unangebracht.
TATEN GEGEN DAS LEBEN
Apropos „Viel hilft viel“– das gilt in weitestem Sinne auch für den Bereich „Straftaten gegen das Leben“. Wie bereits berichtet, hat Ex-Krankenpfleger Niels Högel, der als Serienmörder in die Kriminalgeschichte eingehen wird, die Statistik (von 19 im Vorjahr auf 58 Taten und Versuche in 2017) zwar nicht unbedingt verfälscht, aber die Jahreszahlen doch exorbitant in die Höhe getrieben. In der Folge seiner Taten waren nicht nur Patienten und Angehörige, sondern auch das Klinikpersonal deutlich sensibler ob manchen
vermeintlich natürlichen Todesfalls geworden und prüfen nun jeden in besonderen Maße. Gibt es nur kleinste Zweifel an der Ursache, werden die Ermittler eingeschaltet. Über 500 Mal wurden sie deshalb laut Polizeichef Wache im vergangenen Jahr aktiv. Neben offensichtlichen Morden und Totschlägen ist so vielleicht auch die ein oder andere unnatürliche Todesursache, mindestens aber der Versuch einer Straftat gegen das Leben, aufgefallen. Taten also, die in all den Vorjahren möglicherweise unentdeckt geblieben wären und auch waren. Nicht zu vergessen ist, dass Oldenburg über mehrere Krankenhäuser verfügt, die auch überregionale Fälle medizinisch betreuen. Von einem reinen Oldenburger Problem – einem, das auf akuter Gewaltbereitschaft in der Stadt beruhen mag – kann also keine Rede sein. Nichtsdestotrotz dürfen die eingangs dargestellten großen Vorfälle nicht kleingeredet werden – eine diese erläuternde Multimedia-Reportage finden Sie unter dem Link
www.bit.ly/SchockstarreOL
GESELLSCHAFTSWANDEL
Nicht unbedingt gleich statistisch, aber eben doch im Alltag ersichtlich, habe sich die Wertigkeit der Delikte nach oben verschoben. Thomas Weber, Leiter der Zentralen Kriminalinspektion, sagt: „Es gibt ein erhöhtes Aggressionspotenzial in allen gesellschaftlichen Schichten.“Auch Eckhard Wache sieht „eine gewisse Enthemmung“in Oldenburg: „Viele Menschen gehen rustikaler miteinander um, fühlen sich schneller und leichter provoziert, tragen zudem mehr Waffen als früher bei sich – auch um sich verteidigen zu können.“Es gebe allgemein mehr Beleidigungen und es würde „eher angezeigt“, wie es heißt.
SEXUALSTRAFTATEN
... was gerade im Bereich der Sexualstraftaten für eine erhebliche Steigerung von 33 Prozent gesorgt hat. Dort ist die Zahl von 112 bekannten Taten im Vorjahr schlagartig auf 149 angestiegen. Das hängt vor allem mit den angezeigten
sexuellen Belästigungen zusammen – sie waren bis Ende 2016 im Gegensatz zu sexuellem Missbrauch und Nötigung nicht ausdrücklich strafbar. Mit der Einführung des Tatbestands ins Strafgesetzbuch hat sich das geändert. Erstmals wurden 27 Fälle angezeigt, auch die Verbreitung pornografischer Schriften habe stark zugenommen.
ROHHEITSDELIKTE
Auffallend ist, dass sich die Zahl der Rohheitsdelikte entsprechend des Bevölkerungszuwachses zwar aktuell um drei Prozent auf insgesamt 1736 leicht nach oben verschoben hat, diese aber trotzdem noch im Langzeitmittel liegt. In den Jahren 2009, 2010 und 2012 gab es – obwohl mehr als 5000 Einwohner weniger – sogar deutlich mehr registrierte Taten. Früher habe es aber auch eine geringere Polizeipräsenz bei großen Stadtfestivitäten gegeben. Dennoch: Mehr Körperverletzungen als im vergangenen Jahr (1259) wurden fünf Jahre lang nicht registriert. Erstens ist die Steigerung mit 45 Taten aber vergleichsweise und erst recht mit Blick auf die Bevölkerungsentwicklung gering, zweitens lag die Zahl vor 2012 regelmäßig auf ähnlichem Niveau.
RAUB UND ERPRESSUNG
Einen Anstieg um 19 Taten gab es hier zu verzeichnen. Von 134 bekannten Fällen von Raub und räuberischer Erpressung konnte die Polizei bislang 78 aufklären. Noch frei herum läuft hingegen ein Täter, dem eine Vielzahl an Überfällen auf Tankstellen und Spielhallen in Oldenburg zugeschrieben werden.
INTERNETKRIMINALITÄT
13 Taten weniger als noch 2016 (damals 819) fallen nicht unbedingt ins Gewicht – was auch damit zusammenhängt, dass gerade beim sogenannten Oybercrime (also „Phishing“und andere OnlineVermögensdelikte) oftmals der tatsächliche Tatort unbekannt ist. Deshalb sagt die Zahl nicht wirklich viel über den Ist-Zustand in diesem Segment aus.
EINBRÜCHE
Weniger Einbrüche (409, -25) bei einer nahezu gleichen Anzahl an Versuchen (186) – Tendenz fallend: Weil die Polizei Ende des vergangenen Jahres eine lang und oft agierende Einbrecherbande ermitteln konnte, dürften die Zahlen auch im kommenden Jahr weiter nach unten korrigiert werden. Dass der Anteil der Versuche am Gesamtgeschehen gestiegen ist, dürfte zwei Gründe haben. Erstens sind möglicherweise mehr „Semiprofis“, getrieben von Beschaffungskriminalität, unterwegs, zweitens machen immer mehr Bürger „dicht“. Die Präventionsbemühungen der Polizei in der Bevölkerung und auch der rein technisch und taktisch verbesserte Einbruchschutz sorgen für gute Werte. Die hat eine Multimediaseite mit vielen Tipps zum Schutz vor Einbrechern erstellt. Diese finden Sie unter
www.bit.ly/EinbruchschutzOL
Der enorme Rückgang der Diebstahlsdelikte (minus rund 1000 auf 5853) ist in der Hauptsache auf die erläuterte Raddiebstahl-Problematik zurückzuführen. Kaum spürbar gestiegen sind da die Zahlen im Bereich Ladendiebstahl (plus 18 auf 1137). Überdies gab es weniger Diebstahlsdelikte aus Fahrzeugen – was auch darauf zurückgeführt werden kann, dass weniger griffbereite Gerätschaften im Auto zu Geld gemacht werden können. Kommt es doch zu Aufbrüchen (eingebaute Navis, Lenkräder), waren meist international agierende Banden aktiv – Vollprofis, die mit wenigen Handgriffen einen erheblichen Ertrag erzielen.
TÄTER
Wer ist verantwortlich? Unter den insgesamt 5075 ermittelten Tatverdächtigen gibt es bei aufgearbeiteten Fällen einige Mehrfachtäter. Mehr als ein Drittel lebt nicht in Oldenburg, war also auf „Durchreise“oder gezielt vor Ort. Oldenburg ist halt eine Großstadt. Wer im Landkreis etwas erleben möchte, den zieht es in die Huntestadt. Auch ist Oldenburg Ausweichgebiet für „böse Bremer“– der letztjährige Verdrängungseffekt am dortigen Bahnhof könnte, so mutmaßt man hier, für unerwünschte Gäste gesorgt haben. 27,47 Prozent (+2,23 Prozent) aller Tatverdächtigen besitzen keine deutsche Staatsbürgerschaft, einige von ihnen waren temporär in der Stadt auffällig. Bei den meisten Rohheitsdelikten gab es eine wie auch immer zu wertende Beziehung zwischen Täter und Opfer – sprich: Unbeteiligte waren zumeist nicht gefährdet. Überdies: Der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Gesamtzahl aller Tatverdächtigen liegt bei 13,85 Prozent. Allerdings gibt es auch weniger straffällige Heranwachsende (von 620 auf 544).
HÄUFIGKEITSZIFFER
Als „Top-Wert“bezeichnet Weber die Oldenburger Häufigkeitsziffer (HZ) – 8197 steht da unterm Strich und bedeutet: So viele Taten auf 100 000 Einwohner wurden registriert. Das mag dann die absoluten Zahlen etwas relativieren. Im vergangenen Jahr lag diese noch bei 9044. Zum Vergleich: Osnabrück, das allerdings auch im NRW-Einzugsbereich liegt, hat eine HZ von 10469.
DIE POLIZEI
Statistisch gesehen wurden 270 Polizeibeamte der PI Oldenburg-StadtMAmmerland im vergangenen Jahr Opfer von Gewalt – einige sogar mehrfach: vor allem Frauen und auch Beamte mit ausländischem Aussehen. Auffällig sei, dass es immer häufiger zu einem „Solidarisierungseffekt“Umstehender komme, Tatverdächtige also plötzlich von Außenstehenden gegen die Polizei verteidigt würden, so Wache. Was bedeutet das in der KonseNuenz? Das führt beispielsweise dazu, dass auch bei vermeintlich relativ harmlosen Einsätzen plötzlich mehrere Streifenwagen vorfahren – damit sich die Kräfte untereinander sichern und schützen können. Das wiederum ist nicht so schnell geleistet, wie es sich hier liest. Denn seit einigen Jahren leidet die Polizei unter einer schleichenden personellen „Erosion“– da sind altersund gesundheitsbedingte Ausstiege und schwerfällige, (organisatorisch bedingt) terminlich eingeschränkte Nachbesetzungen. Die personelle Ausstattung der letzten Jahre gleicht einer „tiefen Talsohle“, so Wache. Hinzu kommen immer mehr Sokos und Fachkommissariate, die gegründet werden und somit Personal bündeln. In den kommenden Jahren wird sich jedoch die Zahl der Beamten wie berichtet erhöhen, zum bisherigen Einstellungstermin 1.10. kommt dann auch noch der 1.4. hinzu. Sprich: Ab 2019 dürften die Beamten mehr von jener Unterstützung bekommen, die sie für ihren Job so dringend benötigen. Und noch in diesem Jahr sollen auch die Spezialkräfte des SEK ihren Standort in Oldenburg beziehen. Sie könnten dann die Oldenburger Kollegen im Ernstfall deutlich schneller unterstützen als bislang.