Nordwest-Zeitung

Was die Polizei-Statistik verrät – und was nicht

Zmmer häufiger werden die Beamten Opfer von Gewalt – Ungewöhnli­cher Solidarisi­erungseffe­kt bei <insätzen

- VON MARC GESCHONKE

Die Wertigkeit der Taten verändert sich – das ist auch gesamtgese­llschaftli­ch zu spüren. Unterstütz­ung soll es für die Behörden bald geben.

OLDENBURG – „Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst fälschen kannst“, hatte der erste Kritiker am Freitag schon kurz nach Veröffentl­ichung der polizeilic­hen Jahresstat­istik die „niedrigste Zahl an Straftaten seit 30 Jahren“provokant, vor allem aber polemisch kommentier­t. Nicht nur in den Sozialen Medien, auch in der Stadtgesel­lschaft hat sich die Diskussion ob echter Wahrheiten und angebliche­r Verschleie­rungstakti­ken der Behörden verschärft. Sicherlich ein Grund für die enorme Diskrepanz von Bauchgefüh­l und tatsächlic­hen Zahlen ist die Verschiebu­ng der öffentlich­en Wahrnehmun­g. Wir haben die vorgelegte­n Oldenburge­r Daten aus dem Jahr 2017 analysiert und erläutern diese Werte.

DIE ZAHLEN

Es handelt sich um die niedrigste Zahl an bekannten Straftaten in der Stadt seit rund drei Jahrzehnte­n, wie Polizeiche­f Eckhard Wache erklärt. Das klingt gut. Zumal die Oldenburge­r Bevölkerun­g in den vergangene­n 30 Jahren ja sogar in fünfstelli­ger Zahl angewachse­n ist. „Das Risiko, hier Opfer einer Straftat zu werden, ist gesunken“, heißt es da. Das mag stimmen, rein rechnerisc­h zumindest. Allein die Zahl der (gemeldeten) Fahrraddie­bstähle ist um etwa ein Viertel zurückgega­ngen. Tatsächlic­h deutet der Blick hinter die bloße Statistik aber schon an, dass dieser Rückgang wenig Einfluss auf das Sicherheit­sgefühl in der Bevölkerun­g haben mag. Denn die Menschen fürchten sich hier in erster Linie nicht vor einem Fahrraddie­bstahl, sondern vor einer Gefahr für Leib und Leben. Insofern müssen diese Zahlen differenzi­erter betrachtet werden.

DIE GROßEN VORFÄLLE

Die tödlichen Schüsse an der Nadorster Straße, die brutalen Überfälle am Lappan, der Steinwurf auf der Autobahn, der SEK-Einsatz am Lerigauweg wegen Waffenbesi­tzes. All das ist aus dem Jahr 2017 in Erinnerung geblieben – weil sie abseits der Norm geschahen und deshalb für erhebliche Aufmerksam­keit sorgten. Nicht weiter gedanklich verankert bleiben da jedoch die vielen hundert Körperverl­etzungen, die alljährlic­h bei Stadtfest, Kramermark­t oder auf der Partymeile geschehen. Beispiele? Da waren die beiden Oldenburge­rinnen, die sich vor einem Schnellimb­iss aufs Übelste in den Haaren hatten. Die Jungs, die sich im Streit und stark alkoholisi­ert in der Wallstraße prügelten. Und so weiter und so fort. Jedes Wochenende aufs Neue. Diese hat es aber auch schon vor fünf, vor zehn, vor zwanzig Jahren gegeben.

DIE FAHRRÄDER

1591 gestohlene Fahrräder waren’s im vergangene­n Jahr – das macht rund 500 Exemplare weniger als noch vor einem Jahr. Doch es gibt ein Aber: Fahrräder werden im7747

mer seltener registrier­t, können also bei einem Fund nur schwerlich den Besitzern und einem etwaigen Diebstahl zugeordnet werden. Noch seltener wird der Verlust des eigenen Fahrrads angezeigt. Ein Beispiel: Von einem riesigen Schwung entsorgter Fahrräder, die im vergangene­n Jahr in den Gewässern der Stadt gefunden wurden, war lediglich ein Bruchteil registrier­t. Da kann die Fahrrad-Ermittlerg­ruppe der Polizei noch so gute Arbeit leisten – ein Jubel ob derart niedriger Zahlen tut nicht not.

RAUSCHGIFT­DELIKTE

Einen leichten Rückgang (von 691 auf 680) verzeichne­t die Polizei bei der Ermittlung von Rauschgift­delikten. Das allerdings steht im deutlichen Missverhäl­tnis zu den Warnungen und Vermutunge­n, die im Verlauf des Jahres von gleicher Seite kamen. Woran das liegt? Nun, bei besagten Drogendeli­kten handelt es sich um eine sogenannte „Holkrimina­lität“– also um Fälle, die nur durch Kontrollen und Ermittlung­en der Polizei aufgedeckt werden. Sprich: Je mehr Polizisten auf diesem Gebiet aktiv sind, desto mehr Funde gibt es auch. Im Umkehrschl­uss bedeutet es, dass die Polizei – wider besserer Ergebnisse – weniger Personal zur Ermittlung einsetzen konnte. Zudem ziehen Verfahren zu jedem ermittelte­n Dealer einen enormen Rattenschw­anz nach sich. Das aber führt mit weniger Personal zu noch weniger Kontrollen. Jubel? Unangebrac­ht.

TATEN GEGEN DAS LEBEN

Apropos „Viel hilft viel“– das gilt in weitestem Sinne auch für den Bereich „Straftaten gegen das Leben“. Wie bereits berichtet, hat Ex-Krankenpfl­eger Niels Högel, der als Serienmörd­er in die Kriminalge­schichte eingehen wird, die Statistik (von 19 im Vorjahr auf 58 Taten und Versuche in 2017) zwar nicht unbedingt verfälscht, aber die Jahreszahl­en doch exorbitant in die Höhe getrieben. In der Folge seiner Taten waren nicht nur Patienten und Angehörige, sondern auch das Klinikpers­onal deutlich sensibler ob manchen

vermeintli­ch natürliche­n Todesfalls geworden und prüfen nun jeden in besonderen Maße. Gibt es nur kleinste Zweifel an der Ursache, werden die Ermittler eingeschal­tet. Über 500 Mal wurden sie deshalb laut Polizeiche­f Wache im vergangene­n Jahr aktiv. Neben offensicht­lichen Morden und Totschläge­n ist so vielleicht auch die ein oder andere unnatürlic­he Todesursac­he, mindestens aber der Versuch einer Straftat gegen das Leben, aufgefalle­n. Taten also, die in all den Vorjahren möglicherw­eise unentdeckt geblieben wären und auch waren. Nicht zu vergessen ist, dass Oldenburg über mehrere Krankenhäu­ser verfügt, die auch überregion­ale Fälle medizinisc­h betreuen. Von einem reinen Oldenburge­r Problem – einem, das auf akuter Gewaltbere­itschaft in der Stadt beruhen mag – kann also keine Rede sein. Nichtsdest­otrotz dürfen die eingangs dargestell­ten großen Vorfälle nicht kleingered­et werden – eine diese erläuternd­e Multimedia-Reportage finden Sie unter dem Link

www.bit.ly/Schockstar­reOL

GESELLSCHA­FTSWANDEL

Nicht unbedingt gleich statistisc­h, aber eben doch im Alltag ersichtlic­h, habe sich die Wertigkeit der Delikte nach oben verschoben. Thomas Weber, Leiter der Zentralen Kriminalin­spektion, sagt: „Es gibt ein erhöhtes Aggression­spotenzial in allen gesellscha­ftlichen Schichten.“Auch Eckhard Wache sieht „eine gewisse Enthemmung“in Oldenburg: „Viele Menschen gehen rustikaler miteinande­r um, fühlen sich schneller und leichter provoziert, tragen zudem mehr Waffen als früher bei sich – auch um sich verteidige­n zu können.“Es gebe allgemein mehr Beleidigun­gen und es würde „eher angezeigt“, wie es heißt.

SEXUALSTRA­FTATEN

... was gerade im Bereich der Sexualstra­ftaten für eine erhebliche Steigerung von 33 Prozent gesorgt hat. Dort ist die Zahl von 112 bekannten Taten im Vorjahr schlagarti­g auf 149 angestiege­n. Das hängt vor allem mit den angezeigte­n

sexuellen Belästigun­gen zusammen – sie waren bis Ende 2016 im Gegensatz zu sexuellem Missbrauch und Nötigung nicht ausdrückli­ch strafbar. Mit der Einführung des Tatbestand­s ins Strafgeset­zbuch hat sich das geändert. Erstmals wurden 27 Fälle angezeigt, auch die Verbreitun­g pornografi­scher Schriften habe stark zugenommen.

ROHHEITSDE­LIKTE

Auffallend ist, dass sich die Zahl der Rohheitsde­likte entspreche­nd des Bevölkerun­gszuwachse­s zwar aktuell um drei Prozent auf insgesamt 1736 leicht nach oben verschoben hat, diese aber trotzdem noch im Langzeitmi­ttel liegt. In den Jahren 2009, 2010 und 2012 gab es – obwohl mehr als 5000 Einwohner weniger – sogar deutlich mehr registrier­te Taten. Früher habe es aber auch eine geringere Polizeiprä­senz bei großen Stadtfesti­vitäten gegeben. Dennoch: Mehr Körperverl­etzungen als im vergangene­n Jahr (1259) wurden fünf Jahre lang nicht registrier­t. Erstens ist die Steigerung mit 45 Taten aber vergleichs­weise und erst recht mit Blick auf die Bevölkerun­gsentwickl­ung gering, zweitens lag die Zahl vor 2012 regelmäßig auf ähnlichem Niveau.

RAUB UND ERPRESSUNG

Einen Anstieg um 19 Taten gab es hier zu verzeichne­n. Von 134 bekannten Fällen von Raub und räuberisch­er Erpressung konnte die Polizei bislang 78 aufklären. Noch frei herum läuft hingegen ein Täter, dem eine Vielzahl an Überfällen auf Tankstelle­n und Spielhalle­n in Oldenburg zugeschrie­ben werden.

INTERNETKR­IMINALITÄT

13 Taten weniger als noch 2016 (damals 819) fallen nicht unbedingt ins Gewicht – was auch damit zusammenhä­ngt, dass gerade beim sogenannte­n Oybercrime (also „Phishing“und andere OnlineVerm­ögensdelik­te) oftmals der tatsächlic­he Tatort unbekannt ist. Deshalb sagt die Zahl nicht wirklich viel über den Ist-Zustand in diesem Segment aus.

EINBRÜCHE

Weniger Einbrüche (409, -25) bei einer nahezu gleichen Anzahl an Versuchen (186) – Tendenz fallend: Weil die Polizei Ende des vergangene­n Jahres eine lang und oft agierende Einbrecher­bande ermitteln konnte, dürften die Zahlen auch im kommenden Jahr weiter nach unten korrigiert werden. Dass der Anteil der Versuche am Gesamtgesc­hehen gestiegen ist, dürfte zwei Gründe haben. Erstens sind möglicherw­eise mehr „Semiprofis“, getrieben von Beschaffun­gskriminal­ität, unterwegs, zweitens machen immer mehr Bürger „dicht“. Die Prävention­sbemühunge­n der Polizei in der Bevölkerun­g und auch der rein technisch und taktisch verbessert­e Einbruchsc­hutz sorgen für gute Werte. Die hat eine Multimedia­seite mit vielen Tipps zum Schutz vor Einbrecher­n erstellt. Diese finden Sie unter

www.bit.ly/Einbruchsc­hutzOL

Der enorme Rückgang der Diebstahls­delikte (minus rund 1000 auf 5853) ist in der Hauptsache auf die erläuterte Raddiebsta­hl-Problemati­k zurückzufü­hren. Kaum spürbar gestiegen sind da die Zahlen im Bereich Ladendiebs­tahl (plus 18 auf 1137). Überdies gab es weniger Diebstahls­delikte aus Fahrzeugen – was auch darauf zurückgefü­hrt werden kann, dass weniger griffberei­te Gerätschaf­ten im Auto zu Geld gemacht werden können. Kommt es doch zu Aufbrüchen (eingebaute Navis, Lenkräder), waren meist internatio­nal agierende Banden aktiv – Vollprofis, die mit wenigen Handgriffe­n einen erhebliche­n Ertrag erzielen.

TÄTER

Wer ist verantwort­lich? Unter den insgesamt 5075 ermittelte­n Tatverdäch­tigen gibt es bei aufgearbei­teten Fällen einige Mehrfachtä­ter. Mehr als ein Drittel lebt nicht in Oldenburg, war also auf „Durchreise“oder gezielt vor Ort. Oldenburg ist halt eine Großstadt. Wer im Landkreis etwas erleben möchte, den zieht es in die Huntestadt. Auch ist Oldenburg Ausweichge­biet für „böse Bremer“– der letztjähri­ge Verdrängun­gseffekt am dortigen Bahnhof könnte, so mutmaßt man hier, für unerwünsch­te Gäste gesorgt haben. 27,47 Prozent (+2,23 Prozent) aller Tatverdäch­tigen besitzen keine deutsche Staatsbürg­erschaft, einige von ihnen waren temporär in der Stadt auffällig. Bei den meisten Rohheitsde­likten gab es eine wie auch immer zu wertende Beziehung zwischen Täter und Opfer – sprich: Unbeteilig­te waren zumeist nicht gefährdet. Überdies: Der Anteil der Kinder und Jugendlich­en an der Gesamtzahl aller Tatverdäch­tigen liegt bei 13,85 Prozent. Allerdings gibt es auch weniger straffälli­ge Heranwachs­ende (von 620 auf 544).

HÄUFIGKEIT­SZIFFER

Als „Top-Wert“bezeichnet Weber die Oldenburge­r Häufigkeit­sziffer (HZ) – 8197 steht da unterm Strich und bedeutet: So viele Taten auf 100 000 Einwohner wurden registrier­t. Das mag dann die absoluten Zahlen etwas relativier­en. Im vergangene­n Jahr lag diese noch bei 9044. Zum Vergleich: Osnabrück, das allerdings auch im NRW-Einzugsber­eich liegt, hat eine HZ von 10469.

DIE POLIZEI

Statistisc­h gesehen wurden 270 Polizeibea­mte der PI Oldenburg-StadtMAmme­rland im vergangene­n Jahr Opfer von Gewalt – einige sogar mehrfach: vor allem Frauen und auch Beamte mit ausländisc­hem Aussehen. Auffällig sei, dass es immer häufiger zu einem „Solidarisi­erungseffe­kt“Umstehende­r komme, Tatverdäch­tige also plötzlich von Außenstehe­nden gegen die Polizei verteidigt würden, so Wache. Was bedeutet das in der KonseNuenz? Das führt beispielsw­eise dazu, dass auch bei vermeintli­ch relativ harmlosen Einsätzen plötzlich mehrere Streifenwa­gen vorfahren – damit sich die Kräfte untereinan­der sichern und schützen können. Das wiederum ist nicht so schnell geleistet, wie es sich hier liest. Denn seit einigen Jahren leidet die Polizei unter einer schleichen­den personelle­n „Erosion“– da sind altersund gesundheit­sbedingte Ausstiege und schwerfäll­ige, (organisato­risch bedingt) terminlich eingeschrä­nkte Nachbesetz­ungen. Die personelle Ausstattun­g der letzten Jahre gleicht einer „tiefen Talsohle“, so Wache. Hinzu kommen immer mehr Sokos und Fachkommis­sariate, die gegründet werden und somit Personal bündeln. In den kommenden Jahren wird sich jedoch die Zahl der Beamten wie berichtet erhöhen, zum bisherigen Einstellun­gstermin 1.10. kommt dann auch noch der 1.4. hinzu. Sprich: Ab 2019 dürften die Beamten mehr von jener Unterstütz­ung bekommen, die sie für ihren Job so dringend benötigen. Und noch in diesem Jahr sollen auch die Spezialkrä­fte des SEK ihren Standort in Oldenburg beziehen. Sie könnten dann die Oldenburge­r Kollegen im Ernstfall deutlich schneller unterstütz­en als bislang.

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BILD: GESCHONKE Jede Menge Daten, Zahlen, Fälle: So sieht ein Teil der Jahresstat­istik der Polizei aus. Doch was steckt dahinter?
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