Überlebensglück statt glückliches Leben
Sozialphilosoph Oskar Negt stellt bei VHS Autobiografie vor
Ter 83-Jährige, der in Oldenburg die Schule besucht hat, sprach in der Reihe „Heimat: Bleiben. Suchen. Finden“. 8raumatische Fluchterlebnisse 1945 stehen im Zentrum seines Buchs.
OLDENBURG – Das erste Gefühl der Sesshaftigkeit war bei dem Sozialphilosophen Prof. Dr. Oskar Negt vorhanden, als er 1955 sein Abiturzeugnis an der damaligen Hindenburgschule (heute Herbartgymnasium) im naturwissenschaftlichen Zweig ausgehändigt bekam. 1951 war er unter sehr schweren Fluchtbedingungen nach Döhlen, ein Ortsteil von Großenkneten, gekommen.
Der 1934 in Ostpreußen geborene Soziologe, Philosoph, Politikberater und Gewerkschafter schaffte es, durch intensives Studium der Werke Goethes und hohe Kenntnis der Farbenlehre, den Mangel an naturwissenschaftlichen Kenntnissen auszugleichen. „Einige Lehrer fragten mich, was denn die Farbenlehre zu einem physikalischen Problem sagen würde“, berichtet der Wissenschaftler im Gespräch mit der NWZ.
Seine Frau, Prof. Dr. Christine Morgenroth, las aus Negts autobiografischem Buch „Überlebensglück“. Rund 60 Menschen hörten im Rahmen der VHS-Vortragsreihe „Heimat: Bleiben. Suchen. Finden“zu.
Zusammen mit seinen beiden Schwestern Margot und Ursel war Negt im Januar 1945 mit dem Schiff über die Ostsee nach Dänemark geflohen.
EiFeMHliEh waren sie auf dem Weg nach Berlin, wo sie sich mit dem Rest der Familie treffen wollten. Aber 1945 fuhr kein Zug mehr nach Berlin. „Am 25. Januar 1945 endete meine Kindheit, als ich von den Eltern und den anderen Geschwistern getrennt wurde“, so Negt.
Die schrecklichen Erlebnisse auf der Flucht habe er nur überstanden, weil er als Zehnjähriger eine sehr enge Bindung zu seinen beiden älteren Schwestern gehabt habe. „Wir waren eine sehr bindungsstarke Familie. Die Schwestern haben immer um mich gekämpft“, erinnert sich der heute 83-Jährige.
Negt hat lange gezögert, eine Autobiografie zu schreiben, weil „alles Wissenswerte bereits in Interviews, Reden und Schriften ausgebreitet war“. Während eines längeren Schreiben als psychoanalytischer Prozess: Christine Morgenroth las bei der VHS aus „Überlebensglück“, den Lebenserinnerungen ihres Ehemanns Oskar Negt, vor. Aufenthalts bei dem Kulturwissenschaftler Helmut Lethen im Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien begab er sich dann doch auf „autobiografische Spurensuche“.
Grundlage waren lange Gespräche mit seinen Schwestern Ruth, Ursel und Margot. Morgenroth las ein Gespräch mit seiner Schwester Ruth vor, das im Buch als solches widergegeben wird. In diesem Gespräch wird deutlich, dass gemeinsame Erinnerungen ganz oder teilweise unterschiedlich wahrgenommen werden können.
Negt idealisierte seinen Vater als politisch denkender Mensch, während Ruth ihn als Nörgler empfunden hat. „Aber eigentlich war er kein schlechter Mensch“, so Ruth.
Die Geschichte vom Storch im Rauchfang wird von Morgenroth als Ableitung dafür genommen, dass Kinder doch vom Storch gebracht werden könnten. Schwester Ruth entdeckt in einem Rauchfang einen verirrten Storch und hat mit diesem lebendigen Fund viel Erfolg in der Schule.
Von diesem Erfolg will sie schnell zu Hause erzählen, wird aber Vater mit den Worten empfangen: „Du hast ein Brüderchen bekommen.“Für sie war klar, dass Kinder vom Storch gebracht werden. Als 90-Jährige hat Ruth diese Geschichte erzählt. Die seiner Autobiografie zugrundeliegenden Informationen und Stichworte auf dem Weg der „autobiografischen Spurensuche“waren für Negt vielschichtig. Die Zeit im Internierungslager in Dänemark hat er in guter Erinnerung: „Wir waren eingesperrt, wurden aber gut versorgt.“
In der Diskussion wurde klar, dass man die damaligen Flüchtlingsverhältnisse nicht mit den heutigen vergleichen kann. „Obgleich die Ostsee damals innerhalb von vier Wochen 30000 Menschenleben geschluckt hat“, betont Negt. Seinen in Oldenburg ausgestellten Flüchtlingsausweis besitzt der Soziologe und Philosoph immer noch.
„Überlebensglück“, ein Buch das vom Glück erzählt, das man trotz alledem empfinden kann, wenn man sich in einer guten Bindung befindet. Negt hat seiner Frau, der Professorin für Sozialpsychologie an der Leibniz Universität in Hannover, nicht widersprochen: Das Buch war ein psychoanalytischer Prozess für ihn.
Überlebensglück, Steidl Verlag 2016, 320 Seiten, Leinen, 24 Euro