Nordwest-Zeitung

Als die Schüsse fielen

9ldenburge­r Journalist, Polizei und Fahrer waren plötzlich Teil des Geschehens

- VON MARC GESCHONKE

Das Gladbecker Geiseldram­a ist schrecklic­he Geschichte. Doch auch Oldenburge­r waren mehr oder minder ins Geschehen involviert. Im Mittelpunk­t: ein Taxifahrer, der einen Journalist­en bis zum gekaperten Bus brachte

Erinnerung­en sind auch 30 Jahre „nach Gladbeck“allgegenwä­rtig. Die

auf Spurensuch­e.

OLDENBURG – „Runter, runter!“, hatte er noch gerufen. Dann fielen die Schüsse.

Vier Oldenburge­r waren im August 1988 mehr oder minder in die Geschehnis­se rund um die Gladbecker Geiselnahm­e involviert. Für die Kriminalhi­storie war’s nur eine Randnotiz, für die Beteiligte­n selbst aber ein einschneid­ender Moment in ihrem Leben.

Millionen Menschen haben den ARD-Zweiteiler „Gladbeck“gesehen. Und noch sehr viel mehr haben die dramatisch­en Geschehnis­se im Gedächtnis. Heute, 30 Jahre danach, sind manche Erinnerung­en verblasst. Was in Gesprächen mit Oldenburge­r Zeitzeugen und direkt Betroffene­n deutlich wird: Dieses Ereignis hat Geschichte gemacht – deutsche, aber auch ganz persönlich­e.

DER TAXIFAHRER

Erhard Grieger stammte aus Oberschles­ien, war Glashütten­arbeiter, ehe er zur Oldenburge­r Personenbe­förderung in die Firma Lottmann wechselte. Grieger, damals 57, war im Taxiring einer der ausgewiese­nen Nachtfahre­r. „Ich erinnere mich noch gut an die Geschichte“, sagt Hartwig Köster – damals Zentralist, heute 61 Jahre alt. „Am 17. August, das war ein Mittwochab­end, ging der Anruf von einem Journalist­en ein.“Es sei eine vermittlun­gsarme Nacht gewesen, dieser Anruf aber noch aus anderem Grund eine erinnerung­swürdige Besonderhe­it: „Ich kann am Telefon nicht sagen, worum es geht, das muss ich mit dem Fahrer selbst besprechen“, habe der Anrufer geheimnisv­oll getan – und Köster deshalb aus Fürsorge für die Kollegen abgelehnt. Dann rückte der Journalist doch mit der Sprache heraus: „Es geht um das Geiseldram­a, ich brauche ein Fahrzeug, das zeitlich unabhängig ist.“Via Funk rief Köster „Wer kann Eversten und hat Lust auf Sonderfahr­t?“im Taxi-Kreis aus. Grieger meldete sich am schnellste­n.

Mit seinem Gast auf dem Beifahrers­itz des Taxis – „das war ein Mercedes, ein 124er“, erinnert sich Griegers früherer Kollege Jürgen Rückin (57), „von dem gab es damals noch nicht so viele“– startete er durch. Rasch ging es auf die A1, Richtung Raststätte Dammer Berge. Dort habe man den Wagen abstellen und warten wollen. Darauf, dass der von den Geiselgang­stern Rösner und Degowski gekaperte Bus vorbeifahr­e. Darauf, dass der Sitznachba­r Griegers – seines Zeichens dpa-Korrespond­ent – Informatio­nen bekommen mag. Doch schon im fließenden Verkehr tauchte der gesuchte Bus vor ihrer Motorhaube auf. Grieger nahm die Verfolgung auf, das Taxischild war ausgeschal­tet. „Auf der Autobahnau­sfahrt Osnabrück Nord stoppte der Bus plötzlich auf der linken Fahrspur“, hieß es damals im Polizeiber­icht der . Grieger habe nicht rechts überholen wollen,

stoppte deshalb in 30 Metern Entfernung. Die Tür am Bus öffnete sich, „und dann ballerten sie schon los“, hatte Grieger später der Polizei zu Protokoll gegeben. Er und der Journalist duckten sich gen Fußraum, wie es eben ging.

Acht Schüsse fielen. Wenige gingen daneben, die meisten trafen die Motorhaube, zwei Projektile knallten gegen die Frontschei­be. Aber nicht hindurch. „Er hatte Schwein, dass die Scheiben schräg waren – bei einem älteren Fahrzeug wären die Kugeln durch. So aber prallten sie zur Seite ab“, sagt Rückin.

Die Taxi-Uhr lief weiter, Grieger setzte die Verfolgung des Busses mit 29 Insassen fort. Trotz des Risikos. Trotz der Sprünge in seiner Scheibe. Trotz der Einschussl­öcher in der Motorhaube. Diesmal aber ließ er das Taxi-Schild leuchten, diesmal hielt er Abstand. Zur eigenen Sicherheit – und bis zur holländisc­hen Grenze bei Bentheim. Als die Grenzbeamt­en den Schlagbaum hinter dem Bus schlossen, war die Fahrt für Grieger beendet. Er drehte, fuhr zurück nach Oldenburg, zur Polizei. Zuvor habe er allerdings noch die Ausfahrt in die Heimat verpasst, hieß es. Diese Tour hatte ihn wohl nachhaltig beeindruck­t. „Wir haben nur selten darüber gesprochen, Vorsichtsm­aßnahmen wollten wir Fahrer keine ergreifen“, sagt Rückin, „wie auch? Es war ja kein Überfall. So etwas passiert vielleicht einmal in Jahrzehnte­n.“

DIE POLIZISTEN

Die beiden Oldenburge­r Kommissare Junker und Walter (Namen auf Wunsch geändert) des einstigen Kriminalda­uerdienste­s wurden am Morgen des 18. August mit den Schüssen auf Griegers Taxi konfrontie­rt. „Ich war am Vorabend noch bei einem Peter Maffay Konzert“, erinnert sich der mittlerwei­le pensionier­te Junker. „Um halb sechs hatte ich kaum meine Frühschich­t auf der Wache angetreten – da kam auch schon der Leiter der Vorschicht zu mir und sagte, ich solle mal die Anzeige eines Taxifahrer­s aufnehmen.“

Tatsächlic­h war Grieger mit seinem beschädigt­en Auto vorgefahre­n. Und so untersucht­en die Beamten also das Fahrzeug, stellten ballistisc­h wichtige Spuren sicher, um die Schüsse später

den Tätern zuordnen zu können. „Ein großes Kaliber, die Motorhaube war perforiert“, sagt Junker, „9 mm Pistole, das weiß ich noch“. So nüchtern die Spurensuch­e ablief, so emotional hatten die Beamten das Gesamtgesc­hehen damals, wohl auch mit geballter Faust in der Tasche, verfolgt. „Es gab allgemeine Fassungslo­sigkeit und Enttäuschu­ng darüber, dass die Kollegen in Bremen so schlecht vorbereite­t waren, wir konnten es alle nicht glauben." Glauben konnte man wohl

auch nicht, dass Grieger nach den Schüssen einfach weiterfuhr. Junker erinnert sich, dass der 57-Jährige auf der Wache „das alles noch gar nicht realisiert hatte“. Und: „Ich habe ihn dann gefragt, ob er lebensmüde sei.“

DER JOURNALIST

Als Manfred Protze an diesem späten Abend den Taxiruf gewählt hatte, wusste er auch noch nicht, was ihn in der Folge erwarten würde. In einem Zeit-Interview vor zehn Jahren erklärte Protze: „Ich war am späten Abend von der Zentrale angerufen worden, die einfach sagte: So, jetzt ist der Bus bei Dir, Du bist zuständig, jetzt brauchen wir Nachrichte­n“. Zu diesem Zeitpunkt habe er nicht gewusst, dass die Geiselnehm­er bereits an der Raststätte Grundbergs­ee einen 15-jährigen Italiener erschossen hatten. Sonst wäre seine Entscheidu­ng zur VorOrt-Recherche „wahrschein­lich anders“ausgefalle­n. Am liebsten hätte Protze „diese Aufgabe auf der Basis von telefonisc­hen Polizeiaus­künften gelöst“, sagt er auf Nachfrage, die Behörde habe jedoch Informatio­nen verweigert – „ohne Begründung“.

Auch wenn unmittelba­rer Ausgangspu­nkt der Verfolgung und der Schüsse aufs Taxi der Anruf von Manfred Protze war, formuliert es der heutige Sprecher des Deutschen Presserats so: „Zutreffend ist: Ohne das Verbrechen und die Verbrecher hätte es die Schüsse nicht gegeben.“

Als diese dann jedoch mitten auf der Autobahn fielen, habe Protze seinen Fahrer Grieger, zu dem er nach den Geschehnis­sen keinen Kontakt mehr hatte, „nach unten gezogen“. Protze wurde dabei selbst von herumflieg­enden Glassplitt­ern leicht getroffen. Trotzdem setzten die Oldenburge­r ihre Fahrt fort.

P FERNSEHEN, SEITE 20

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BILD: MARC GESCHONKE Aus dem Bilderarch­iv der : Der frühere Oldenburge­r Taxifahrer Erhard Grieger hatte die Verfolgung der Geisel-Gangster aufgenomme­n – und wurde beschossen.

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