Nordwest-Zeitung

PAbscheuli­ches Videokunst­werk“

Schriftste­ller Martin Mosebach über die 21 Märtyrer von Sirte

- VON ANDREAS ÖHLER UND NORBERT ZONKER

FRAGE: Herr Mosebach, was hat Sie dazu bewogen, über die 21 Märtyrer von Sirte ein Buch zu schreiben? MOSEBACH: Es waren die Bilder von diesem Martyrium. An erster Stelle stand das Foto des abgetrennt­en Kopfes des toten Kiryollos. Und dann gab es das Video, das die Mörder hergestell­t haben. Es war ein, man möchte sagen: künstleris­ch, mit Formabsich­t hergestell­tes Video. Mit mehreren Kameras aufgenomme­n, farblich gestaltet, choreograp­hiert, mit einer Schiene, die an den Opfern entlang gelegt war, die da knieten, für die Kamerafahr­t. Man hatte darauf geachtet, dass die Henker einen Kopf größer waren als die zum Tode Bestimmten. Ein abscheulic­hes VideoKunst­werk, das aber zugleich Realität zeigte: ein Dokument, das die Standhafti­gkeit derjenigen zeigt, die da geköpft werden sollen und zum Schluss ihr Bekenntnis zu Jesus Christus vernehmlic­h ablegen. FRAGE: In der westlichen Kirche ist die Vorstellun­g des Martyriums, salopp gesagt, aus der Mode ge+ommen, obwohl es im vergangene­n ,ahrhundert wohl weltweit mehr christlich­e Märtyrer gegeben hat als in allen vorangegan­genen ,ahrhundert­en. -orau. .ühren Sie diesen unterschie­dlichen /ugang im Osten und -esten zurüc+? MOSEBACH: Tatsächlic­h löst das Phänomen des Märtyrers, der ganz bewusst für Christus leidet, eine gewisse Verlegenhe­it in der gegenwärti­gen Welt aus. Da tritt eine Unbedingth­eit des Bekenntnis­ses hervor, die uns irgendwie ein bisschen peinlich ist. In einer Welt, in der Dialog, Toleranz, Konsens, Kompromiss bis hin zum Indifferen­tismus große soziale Werte sind, wirkt derjenige, der bis zum Tod bei seiner Sache bleibt, eigentümli­ch starrsinni­g, unbeweglic­h, fanatisch, fast bedauernsw­ert vernagelt – kein wirkliches Vorbild. Aber für die Christen der frühen Jahrhunder­te besaßen die Märtyrer eine ganz eminente Funktion. Märtyrer gab es bereits, bevor es das Neue Testament gab. Die Evangelist­en haben eigentlich nichts anderes getan, als den Glauben der Märtyrer aufgeschri­eben und waren selbst Märtyrer. Dieser Glaube der Märtyrer ist der Maßstab, an dem sich auch die moderne Bibelexege­se messen lassen muss. FRAGE: 5nserer Vätergener­ation hat die 6S-Ideologie eingeredet, sie op.erten sich. Heute behaupten die 7schihadis­ten, sie seien Märtyrer und +ämen ins 8aradies. Kann es gelingen, den christlich­en Martyriums-Begri.., nachdem er ideologisc­h oder politisch besetzt und damit e3trem dis+reditiert wurde, wieder neu zu de.inieren? MOSEBACH: Daran führt kein Weg vorbei. Denn Märtyrer heißt ja nichts anderes als Zeuge. Und Zeugnis heißt in diesem Fall: Zeugnis ablegen für den Gottmensch­en, der gelitten hat. Natürlich gibt es inzwischen die islamistis­che Pervertier­ung des MärtyrerBe­griffs: Mörder und Selbstmord­attentäter werden mit diesem Titel geehrt. Aber die Christen haben den Begriff nun einmal erfunden, und sie sollten auf dem Recht bestehen, ihn in ihrer Weise zu gebrauchen. FRAGE: 9lauben Sie, dass die 21 ein Bewusstsei­n von ihrem Martyrium hatten, oder haben

sie sich sozusagen ein.ach im 9ebet 9ott überantwor­tet und über ihre eigene 2olle nicht geredet? Oder waren sie gleichsam +onditionie­rt von ihrer 9emeinde und in diese Vorstellun­g eingebette­t? MOSEBACH: Es wurde mir immer wieder gesagt: Das sind die Märtyrer, und wir sind stolz auf sie. Aber wir alle sind dazu bereit, Märtyrer zu sein. Der Erzbischof dieser Diözese sagte mir: „Hier lebt kein einziger Kopte, der bereit wäre, seinen Glauben zu verraten.“Ein großes Wort, es lässt sich nicht nachprüfen, war aber mit Überzeugun­g gesprochen. Und eines stimmt: Die Märtyrer, diese kleinen Bauern haben wirklich in einem sehr hohen Maß ein liturgisch­es Leben geführt. Die Liturgie hat in ihrem Leben eine sehr große Rolle gespielt, und sie waren daran auch ausführend beteiligt als bischöflic­h bestallte Hymnensäng­er, die diese langen Litaneien und Hymnen auswendig vorgetrage­n haben. Und die Priester, die diese Menschen in Libyen besucht hatten, als sie noch nicht gefangen waren, haben mir gesagt, dass sie den großen Raum, in dem sie alle zusammen auf dem Boden geschlafen haben, in eine Kirche verwandelt hätten, wo sie jeden Abend gesungen und gebetet haben. FRAGE: Sie haben eine ganz eigene 0orm des /ugangs ge.unden, mit 1lementen aus 2eportage und 2e.le3ion und 4nalyse. -ürden Sie das als eine moderne 0orm von Hagiograph­ie, also von Heiligenge­schichte, bezeichnen? MOSEBACH: Ja, jedenfalls keine reine Form von Hagiograph­ie, weil ich immer versucht habe, der Skepsis auch einen Platz zu lassen. Die gehört ja eigentlich in die Hagiograph­ie nicht herein. Hagiograph­ie im strengen Sinne ist eine Schrift gewordene Ikone. Das ist mein Buch nicht. Eher ein tastender Versuch, den Toten näherzukom­men durch Betrachtun­g ihrer Lebensumst­ände, die es nicht zu idealisier­en galt. Mein Grundsatz war, über das, was ich hörte und sah, nicht zu urteilen, sondern es dem Leser anheim zu stellen, wie er sich dazu stellen möchte. Zum Beispiel in der Frage der vielen Wundererzä­hlungen – die koptische Kirche ist nicht zu denken ohne einen sehr starken Wunderglau­ben, der sich keineswegs nur auf die Vergangenh­eit bezieht. Überhaupt erscheinen Vergangenh­eit und Gegenwart nicht so stark voneinande­r geschieden. Es gibt nicht diese Kluft zwischen unserer Gegenwart und der biblischen Zeit, die wir so stark empfinden.

Martin Mosebach: Die 21. Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer, Rowohlt, 272 Seiten, 20 Euro.

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