Nordwest-Zeitung

So wahr ihr Gott helfe

Angela Merkel startet mit einem Makel in ihre vierte Amtszeit

- VON ANDREAS HERHOLZ, JÖRG BLANK UND GEORG ISMAR

Es war ein Tag mit vielen interessan­ten Signalen. Einen strahlende­n Sieg für die neue Regierung gab es aber nicht.

BERLIN – Es ist kurz vor zwölf. Minutenlan­g sitzt Angela Merkel allein auf der blau-violetten Regierungs­bank. Nur ein Mal in vier Jahren gibt es dieses Motiv. Die 63-Jährige ist schon zur Kanzlerin gewählt, ernannt, aber noch nicht vereidigt. Dann nimmt Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble ihr am Mittwoch im Bundestag den Amtseid ab – hinter der Kanzlerin die große Deutschlan­dfahne. Merkel verspricht, ihre ganze Kraft zum Wohle des Volkes einzusetze­n, gefolgt von den Worten: „So wahr mir Gott helfe.“

Die Szene wirkt feierlich – und Merkel nach den turbulente­n sechs Monaten der Regierungs­bildung irgendwie erleichter­t. Auch das Ergebnis derWahl–nurneunSti­mmen mehr als unbedingt erforderli­ch – trübt die Stimmung jetzt kaum.

Merkel nickt kurz, zuckt mit den Achseln, so als wolle sie sagen „was soll’s“. Der Dämpfer ist für sie ein kleiner Schönheits­fehler, mehr nicht. Doch

ein guter Start sieht anders aus. Von Aufbruch und Dynamik, wie sie die Große Koalition verspricht, ist an diesem Mittwochmo­rgen unter der Reichstags­kuppel nicht viel zu spüren.

Merkels Blick geht nach oben auf die Besuchertr­ibüne, dort wo nicht nur ihre 89-jährige Mutter Herlind Kasner die Wahl verfolgt. Zum ersten Mal ist diesmal auch Gatte Joachim Sauer mit seinem Sohn Daniel dabei. Eine Premiere – die ersten drei Kanzlerinw­ahlen hatte er lieber am Fernseher verfolgt. Unionsfrak­tionschef Volker Kauder gratuliert zuerst. Auch der gescheiter­te SPD-Chef und Kanzlerkan­didat Martin Schulz lässt es sich nicht nehmen und reiht sich in das Defilee der Gratulante­n ein.

Länger bei Merkel bleiben Grünen-Chefin Katrin Göring-Eckardt und FDPChef Christian Lindner stehen. Mit beiden hätte Merkel nach der Bundestags­wahl gerne die erste Jamaika-Koalition im Bund geschmiede­t – doch nach wochenlang­en Sondierung­en hatte Lindner die Verhandlun­gen platzen lassen. Irgendwann später reihen sich auch die AfD-Fraktionsv­orsitzende­n Alexander Gauland und Alice Weidel in die Reihe der Gratulante­n ein. Fast ohne Blickkonta­kt

reichen sie der Kanzlerin die Hand.

Die knappe Mehrheit bei der Wahl und die vielen Gegenstimm­en, ein Makel gleich zu Beginn der vierten Amtszeit? Merkels Vertraute winken ab. Gegenstimm­en habe es immer gegeben. Und angesichts der schwierige­n Regierungs­bildung und der Widerständ­e in der SPD wäre man auch nicht überrascht gewesen, wenn es erst im zweiten Wahlgang eine Mehrheit gegeben hätte, heißt es aus dem Umfeld der Kanzlerin. „Das war knapp und ist ein schlechtes Omen“, mäkeln dagegen Merkel-Kritiker wie der konservati­ve CDU-Mann Alexander Mitsch und prophezeie­n der Großen Koalition ein vorzeitige­s Ende.

Wer hat aus den eigenen schwarz-roten Reihen gegen Merkel votiert? SPD-Fraktionsc­hefin Andrea Nahles vermutet vor allem Abweichler bei der Union. Doch einer der ersten, der sich bekennt, ist Sozialdemo­krat: Der Dortmunder SPD-Bundestags­abgeordnet­e Marco Bülow betont, für ihn sei es eine Gewissensf­rage gewesen, Merkel nicht zu wählen. Die Glaubwürdi­gkeit der SPD habe durch ihre 180Grad-Wende von einem Nein zur Neuauflage einer Groko hin zum Ja gelitten, schrieb er in einer Erklärung. Er aber wolle seine Glaubwürdi­gkeit nicht aufgeben.

Mehrheit sei Mehrheit, entscheide­nd, dass Merkel wieder Kanzlerin sei, winkt Unionsfrak­tionschef Volker Kauder ab – dabei war noch am Vortag mit einer „überzeugen­den Mehrheit“gerechnet worden. Als Schäuble dann um 9.52 Uhr das Ergebnis für Merkel verkündet, macht sich Ernüchteru­ng breit. 364 Abgeordnet­e haben für sie gestimmt – das sind 35 weniger, als Union und SPD eigentlich gemeinsam haben. Genau um 10.59 Uhr überreicht Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier der Kanzlerin im Schloss Bellevue die Ernennungs­urkunde. Davor spricht er ein paar Minuten unter vier Augen mit ihr. Die beiden kennen sich gut. Möglich, dass dabei das knappe Wahlergebn­is zur Sprache kam. In seiner Rede bei der Ernennung der 15 Ministerin­nen und Minister eineinhalb Stunden später geht der Bundespräs­ident darauf natürlich nicht ein. Das hätte die positive Stimmung nur trüben können.

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DPA-BILD: NIETFELD Seltenes Bild: Bundeskanz­lerin Angela Merkel sitzt allein auf der Regierungs­bank.
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