So wahr ihr Gott helfe
Angela Merkel startet mit einem Makel in ihre vierte Amtszeit
Es war ein Tag mit vielen interessanten Signalen. Einen strahlenden Sieg für die neue Regierung gab es aber nicht.
BERLIN – Es ist kurz vor zwölf. Minutenlang sitzt Angela Merkel allein auf der blau-violetten Regierungsbank. Nur ein Mal in vier Jahren gibt es dieses Motiv. Die 63-Jährige ist schon zur Kanzlerin gewählt, ernannt, aber noch nicht vereidigt. Dann nimmt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ihr am Mittwoch im Bundestag den Amtseid ab – hinter der Kanzlerin die große Deutschlandfahne. Merkel verspricht, ihre ganze Kraft zum Wohle des Volkes einzusetzen, gefolgt von den Worten: „So wahr mir Gott helfe.“
Die Szene wirkt feierlich – und Merkel nach den turbulenten sechs Monaten der Regierungsbildung irgendwie erleichtert. Auch das Ergebnis derWahl–nurneunStimmen mehr als unbedingt erforderlich – trübt die Stimmung jetzt kaum.
Merkel nickt kurz, zuckt mit den Achseln, so als wolle sie sagen „was soll’s“. Der Dämpfer ist für sie ein kleiner Schönheitsfehler, mehr nicht. Doch
ein guter Start sieht anders aus. Von Aufbruch und Dynamik, wie sie die Große Koalition verspricht, ist an diesem Mittwochmorgen unter der Reichstagskuppel nicht viel zu spüren.
Merkels Blick geht nach oben auf die Besuchertribüne, dort wo nicht nur ihre 89-jährige Mutter Herlind Kasner die Wahl verfolgt. Zum ersten Mal ist diesmal auch Gatte Joachim Sauer mit seinem Sohn Daniel dabei. Eine Premiere – die ersten drei Kanzlerinwahlen hatte er lieber am Fernseher verfolgt. Unionsfraktionschef Volker Kauder gratuliert zuerst. Auch der gescheiterte SPD-Chef und Kanzlerkandidat Martin Schulz lässt es sich nicht nehmen und reiht sich in das Defilee der Gratulanten ein.
Länger bei Merkel bleiben Grünen-Chefin Katrin Göring-Eckardt und FDPChef Christian Lindner stehen. Mit beiden hätte Merkel nach der Bundestagswahl gerne die erste Jamaika-Koalition im Bund geschmiedet – doch nach wochenlangen Sondierungen hatte Lindner die Verhandlungen platzen lassen. Irgendwann später reihen sich auch die AfD-Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland und Alice Weidel in die Reihe der Gratulanten ein. Fast ohne Blickkontakt
reichen sie der Kanzlerin die Hand.
Die knappe Mehrheit bei der Wahl und die vielen Gegenstimmen, ein Makel gleich zu Beginn der vierten Amtszeit? Merkels Vertraute winken ab. Gegenstimmen habe es immer gegeben. Und angesichts der schwierigen Regierungsbildung und der Widerstände in der SPD wäre man auch nicht überrascht gewesen, wenn es erst im zweiten Wahlgang eine Mehrheit gegeben hätte, heißt es aus dem Umfeld der Kanzlerin. „Das war knapp und ist ein schlechtes Omen“, mäkeln dagegen Merkel-Kritiker wie der konservative CDU-Mann Alexander Mitsch und prophezeien der Großen Koalition ein vorzeitiges Ende.
Wer hat aus den eigenen schwarz-roten Reihen gegen Merkel votiert? SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles vermutet vor allem Abweichler bei der Union. Doch einer der ersten, der sich bekennt, ist Sozialdemokrat: Der Dortmunder SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow betont, für ihn sei es eine Gewissensfrage gewesen, Merkel nicht zu wählen. Die Glaubwürdigkeit der SPD habe durch ihre 180Grad-Wende von einem Nein zur Neuauflage einer Groko hin zum Ja gelitten, schrieb er in einer Erklärung. Er aber wolle seine Glaubwürdigkeit nicht aufgeben.
Mehrheit sei Mehrheit, entscheidend, dass Merkel wieder Kanzlerin sei, winkt Unionsfraktionschef Volker Kauder ab – dabei war noch am Vortag mit einer „überzeugenden Mehrheit“gerechnet worden. Als Schäuble dann um 9.52 Uhr das Ergebnis für Merkel verkündet, macht sich Ernüchterung breit. 364 Abgeordnete haben für sie gestimmt – das sind 35 weniger, als Union und SPD eigentlich gemeinsam haben. Genau um 10.59 Uhr überreicht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier der Kanzlerin im Schloss Bellevue die Ernennungsurkunde. Davor spricht er ein paar Minuten unter vier Augen mit ihr. Die beiden kennen sich gut. Möglich, dass dabei das knappe Wahlergebnis zur Sprache kam. In seiner Rede bei der Ernennung der 15 Ministerinnen und Minister eineinhalb Stunden später geht der Bundespräsident darauf natürlich nicht ein. Das hätte die positive Stimmung nur trüben können.