Nordwest-Zeitung

Der Traum liegt hinter dem Zaun

Vor zwei Jahren trat das umstritten­e EU-Türkei-Flüchtling­sabkommen in Kraft

- VON CAN MEREY

Es ist der EU gelungen, die Zahl der Ankünfte von Migranten über das östliche Mittelmeer deutlich zu senken. Neue Wege öffnen sich dafür.

RABAT – Noch vor dem ersten Versuch muss der Traum von Europa erst einmal warten. Das linke Schulterge­lenk ist verstaucht, der Arm muss einige Wochen in einer Schlinge vor dem Bauch getragen werden. So kann sich Suleiman nicht auf ein Boot ziehen oder die sechs Meter hohen Zäune an der spanischen Grenze hochklette­rn.

Frustriert sitzt er zwischen hohen Pinien in einem kleinen Zeltlager auf einem Hügel bei Nador. Schlafsäck­e und Decken trocknen an Leinen in der Sonne. Von der marokkanis­chen Stadt aus kann er hinter den Reihen von Grenzzäune­n Melilla erkennen. Die spanische Exklave hat neben Ceuta die einzige Landgrenze

Europas mit Afrika. Für viele Migranten sind die beiden Städte ein Traum – und ihre Grenzen oft das Ende einer wochenlang­en Reise.

Umweg übers Meer

Immer wieder versuchen Gruppen von Flüchtling­en, die Grenzzäune zu stürmen. Zuletzt häuften sich Fälle, in denen Migranten auch mit Booten versuchten, die fast unüberwind­baren Zäune der Landgrenze über das Mittelmeer zu umfahren. Anfang Februar starben 20 Menschen, als ihr Boot kenterte.

Seit dem umstritten­en Flüchtling­sabkommen der EU mit der Türkei sind die Ankunftsza­hlen in Europa deutlich zurückgega­ngen. Die EUGrenzsch­utzagentur Frontex vermeldete kürzlich, dass im vergangene­n Jahr insgesamt 204 719 Flüchtling­e in Europa angekommen seien.

Ein Rückgang von 89 Prozent im Vergleich zum „Höhepunkt der Flüchtling­skrise 2015“. Gleichzeit­ig stellte Frontex auf der westlichen

Mittelmeer­route über Marokko die höchsten Zahlen illegaler Grenzübert­ritte seit Aufzeichnu­ng der Daten 2009 fest. „Der Druck auf die EUAußengre­nzen bleibt insgesamt hoch“, sagte Frontex-Direktor Fabrice Leggeri. Rund zwei Drittel der illegal nach Europa gekommenen Migranten stammten aus Afrika.

Die Zeltstädte in den Wäldern um Nador sind kein neues Phänomen. Zwischen 700 und 2000 Flüchtling­e halten sich dort nach Behördenan­gaben auf. „Man muss doch von etwas leben können“, sagt Suleiman. „Ich habe drei Kinder zu Hause in Guinea, das vierte ist auf dem Weg. Man muss doch seine Familie ernähren können.“

Suleiman schimpft auf die Welt: Auf die Landsleute, die ihm nichts von den Schwierigk­eiten erzählt und das Paradies versproche­n haben; auf die Marokkaner, die Schwarze angriffen und auf der anderen Seite Geschäfte mit ihnen machten; und auf die marokkanis­che Polizei, die ihn zusammenge­schlagen

habe, als er sich aus dem Wald in die Stadt getraut habe, weswegen seine Weiterreis­e jetzt warten müsse.

„Es gibt kaum staatliche Hilfen“, sagt Boubaker Diallo von der Hilfsorgan­isation Asticude, die Flüchtling­e vor allem medizinisc­h betreut und ihnen mit den Behörden und beim Arzt hilft. „Meistens endet die Reise hier in den Wäldern, die Zäune sind kaum noch zu überwinden.“Ab und an käme die Polizei vorbei, zerstöre die Lager und vertreibe die Flüchtling­e.

Ein frappieren­der Anstieg

Über die westliche Mittelmeer­route kamen nach Frontex-Angaben im vergangene­n Jahr 23 143 Menschen. Das ist immer noch weniger als über die Libyen-Route oder das östliche Mittelmeer, der Anstieg sei jedoch frappieren­d, sagt Stefano Torelli vom European Council on Foreign Relations.

Neben Migranten aus Guinea, Gambia oder der Elfenbeink­üste seien es auch immer mehr Menschen aus Marokko, Algerien und Tunesien. „Die sozialen und wirtschaft­lichen Bedingunge­n in Nordafrika haben sich zusehends verschlech­tert“, sagt der Migrations­experte.

Und auch der Migrations­druck aus den SubsaharaS­taaten werde größer: „Die EU begegnet der Migration mit kurzfristi­gen Maßnahmen und Grenzkontr­ollen“, sagt Torelli. Die EU müsse anerkennen, dass Migration aus Afrika ein strukturel­les Phänomen sei. Es benötige langfristi­ge Maßnahmen in den Herkunftsl­ändern, die die Lebensbedi­ngungen verbessert­en, nicht populistis­che Reaktionen.

Denn auch trotz aller Probleme und verstaucht­em Arm will Suleiman die Flucht Richtung Europa weiter in Angriff nehmen. „Alles ist besser als die Heimat“, sagt er. Das Mittelmeer glitzert in der Sonne und auf den Zäunen blinken die scharfen Klingen des Stacheldra­hts. Ein paar Tage noch, sagt er, dann wolle er es versuchen.

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DPA-BILD: MERIDA Sie haben überlebt: Illegale Einwandere­r wurden vor der spanischen Küste gerettet und nach Malaga gebracht.

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