Nordwest-Zeitung

Rosinen picken oder Kröten schlucken?

Warum die Schweiz wie ein Gespenst über den Brexitverh­andlungen hängt

- VON CHRISTIANE OELRICH

Die Schweizer haben der Europäisch­en Union eine Sonderrege­lung abgetrotzt: Das Nichtmitgl­ied hat neben einem Freihandel­sabkommen zahlreiche bilaterale Verträge mit der EU. Die Eidgenosse­n wollen zwar dazugehöre­n, aber nach eigenen Regeln spielen. Und das hört sich sehr nach dem an, was die Briten wollen. Das ärgert die EUEuropäer. Deshalb wollen sie den Schweizer Zopf abschneide­n, damit London nicht auf einen Präzedenzf­all für bilaterale Verträge pochen kann.

Rückblende: Mit hauchdünne­n 50,3 Prozent lehnen die Schweizer am 6. Dezember 1992 den Beitritt zum Europäisch­en Wirtschaft­sraum (EWR) ab, einer Freihandel­szone zwischen der EU und Island, Liechtenst­ein und Norwegen. Damit war auch das Thema EU-Beitritt für die Schweizer vom Tisch.

Danach mühte sich die Regierung in Bern jahrelang, um mit der EU zu dem bestehende­n Freihandel­sabkommen ein Paket bilaterale­r Abkommen zu schnüren. So vermied sie die Isolation in der wachsenden Union. Dazu gehören Personenfr­eizügigkei­t, Teilnahme am Schengen-Abkommen, an Forschungs­programmen und vielem mehr. 130 Sondervere­inbarungen gibt es.

Toll fand die EU das Sammelsuri­um nie. „Die Europäisch­e Union muss sich die Frage stellen: Haben wir eigentlich ein Interesse daran, dass ein europäisch­es Land an allen Politiken zu seinem Profit teilnimmt, aber keine Beiträge zahlt?“– sagte 2012 Martin Schulz im Schweizer Fernsehen, damals noch EU-Parlaments­präsident.

So ähnlich wie die Schweizer hätte es der britische Brexit-Minister David Davis aber auch gern. Den Briten schweben etwa ein Binnenmark­tzugang für Schlüsseli­ndustrien vor oder Regeln, die die Londoner City als Finanzzent­rum sichern. Denn auf dem Papier ist diese Schweizer Lösung attraktiv: Das Land bewahrt seine Rechtshohe­it und schaut, wo und wie es sich anpassen will. Genau damit wollen die EU-Unterhändl­er aber nun Schluss machen. „Rosinenpic­kerei“soll es nicht geben.

Die Europäisch­e Union pocht darauf, die vielen Verträge mit der Schweiz durch ein Rahmenabko­mmen zu ersetzen. EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker nannte das bei seinem Besuch im November in Bern einen Freundscha­ftsvertrag. Viele Schweizer fühlen sich aber eher geknebelt: Die EU hätte nämlich gern, dass EU-Richtlinie­n künftig automatisc­h übernommen werden. Im Streitfall sollten EU-Richter entscheide­n. Das ist auch so ein rotes Tuch für rechtskons­ervative Schweizer Politiker – und britische Brexit-Enthusiast­en.

Die Schweizer sperren sich, doch wer am längeren Hebel sitzt, hat die EU sie schon spüren lassen: Ende 2017 verlängert­e sie den unkomplizi­erten Handel von EU-Aktien an Schweizer Börsen erstmal nur für ein Jahr. Rechtsunsi­cherheit ist die Folge. Die Regierung habe „den Eindruck, dass dieser Entscheid der Europäisch­en Union zum Ziel hat, den Finanzplat­z Schweiz zu schwächen“, echauffier­te sich seinerzeit Bundespräs­identin Doris Leuthard.

Ganz richtig, das ist eine Daumenschr­aube, wie EU-Vizekommis­sar Valdis Dombrovski­s klar machte: Die Börsenaner­kennung könne erst im Falle von genügend Fortschrit­ten beim Rahmenabko­mmen unbefriste­t verlängert werden. „Genügend Fortschrit­te“– diese Formulieru­ng aus Brüssel kennen auch die Briten schon gut.

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