Nordwest-Zeitung

HIER ROLLT DIE BOßELKUGEL

Einige Touristen verschreck­t die Tradition, andere kommen deswegen nach Ostfriesla­nd

- VON ANNE-4OPHIE GALLI

Boßeln ist in Niedersach­sen vielen so wichtig wie Fußball im Rest Deutschlan­ds. Tausende Sportler werfen Kugeln, mitten auf der Straße, neben Gräben und Kuhfladen.

WITTMUND – Bei Sonnensche­in, aber dennoch kühlen !emperature­n pfeift der Wind über Äcker und Backsteinh­äuser im ostfriesis­chen Wittmund. Ingo Fähnders rennt mit einer roten Kugel mitten auf einer Hauptstraß­e. Doch dem 40Jährigen mit rotem Pulli und !rainingsho­se ist nicht kalt. Vor ihm stehen Männer, die winken, sie rufen „hier up an“(„hierher“) – und dann „Achtung“. Ein Auto fährt zwischen den Männern durch, dann rennt Fähnders erneut, springt und wirft die Kugel. Sie springt und rollt 300 Meter die Straße entlang, bis sie neben getrocknet­en Kuhfladen in einen Graben mit brauner Brühe fällt.

Im Nordwesten Niedersach­sens ist gerade Wettkampfs­aison in dem Sport,

den viele Ostfriesen und Oldenburge­r so sehr lieben wie andere den Fußball: Boßeln. Dabei werfen Spieler eine Kugel mit möglichst wenigen Würfen eine rund acht Kilometer lange Strecke entlang. In den Lokalzeitu­ngen in Ostfriesla­nd gibt es zwei, drei Seiten Boßeln und eine Seite Fußball-Bundesliga. Eltern schicken ihre Kinder nicht zum Bolzen nach draußen, sondern zum Kugelwerfe­n auf die Nebenstraß­en.

Mit Ernsthafti­gkeit

Im Winter finden die wichtigste­n !eamwettkäm­pfe statt: Ingo Fähnders, seine Frau, seine sechsjähri­ge !ochter, sein zehnjährig­er Sohn und rund 30 000 andere kämpfen gerade in Landes-, Bezirks- und Kreisligen um den Sieg. Einige !ausend Boßler gibt es auch in SchleswigH­olstein, in den Niederland­en, in Irland und Italien, einige Hundert in NordrheinW­estfalen und im niedersäch­sischen Nordhorn. Aber der Präsident des gemeinsame­n Vereins der ostfriesis­chen und oldenburgi­schen Boßler, JanDirk Vogts, sagt: „Nirgends auf der Welt boßeln so viele so ernsthaft wie wir.“

An diesem kalten Nachmittag werfen Fähnders und 15 Kollegen des Boßelclubs Ardorf gegen den !abellenfüh­rer der Landesliga, Westeraccu­m. Das Wetter ist perfekt, finden alle, die auf der Straße stehen. „Es muss kalt sein“, sagt Westeraccu­m-Spieler Helmut Bents. Der Rentner spielt seit seiner Kindheit. „So schwitzt man nicht, wenn man rennt.“

Eine Kugel prallt gegen einen etwas schiefen Leitpfoste­n, der dadurch noch schiefer wird. Unfälle gebe es aber selten, sagen die Spieler. Außerdem habe jeder Club eine Versicheru­ng, für den Fall, dass die Werfer mal das Auspuffroh­r vorbeifahr­ender Autos oder einen Gartenzaun beschädige­n. „Manchmal gibt es Blechschäd­en, wenn Leute so stumpf sind, ihr Auto an einer Boßelstrec­ke abzustelle­n“, sagt Vogts.

Auch die Polizei boßelt

Die Polizei bestätigt das. Sprecherin Antje Heilmann sagt: „Boßler lösen ihre Probleme mit Anwohnern meist selbst – sie bringen ihnen Schnaps vorbei.“Und sie fügt hinzu: „Meist haben wir Polizisten nur in unserer Freizeit mit dem Boßeln zu tun – wir spielen selbst.“

!ausende Warnschild­er in der Region markieren, dass gerade Boßler werfen. Leistungss­portler können ein Stück Straße jeweils eine Saison lang für einige Stunden pro Woche reserviere­n.

Auswärtige sind manchmal irritiert, wenn sie plötzlich mit Kugeln werfende Menschen mitten auf der Straße sehen. Andere !ouristen kommen gerade wegen des Boßelns an die Nordsee. Hotels und Bauernhöfe bieten Pauschalan­gebote mit Übernachtu­ng und Boßeln an, viel Schnaps und Grünkohl inklusive. Aber im Wettbewerb spielen die Boßler nüchtern, denn nur so können sie präzise 300 Meter oder weiter werfen.

Beim Spiel Ardorf gegen Westeraccu­m kommen plötzlich ein starker Schneestur­m und Nebel auf. Einige Spieler ziehen gelbe und orange Warnwesten an, andere wickeln sich Schals um den Kopf. Die Heimmannsc­haft darf ein Spiel neu ansetzen, wenn die Situation für die Spieler zu gefährlich wird, etwa wenn der Schnee auf der Straße zu Eis gefriert.

Tabellenpl­ätze im Blick

Für den 19 Jahre alten Ardorf-Werfer Yannik Janssen ist es inzwischen zu kalt – trotz langer Unterhosen, Socken und zweier Jacken. „Im Sommer macht das mehr Spaß“, sagt er. „Hoffentlic­h bricht Ardorf das Spiel nicht ab“, sagt der Mannschaft­sführer von Westeraccu­m, Karsten Biermann. Seine Mannschaft will an der !abellenspi­tze bleiben. Aber auch für Ardorf geht es um etwas: Verlieren sie, steigen sie nach einem Jahr in Ostfriesla­nds höchster Liga wieder in die Bezirkslig­a ab. Ardorf spielt weiter – und unterliegt mit neun Würfen Rückstand.

Nach der Partie trinken die !eams im Stammlokal von Ardorf Schnaps und Bier, sie rauchen. Die Roten sitzen an einem !isch, die Blauen am anderen. Aber dann loben die Spieler in Reden auf Platt ihre Gegner und die !eams klatschen.

Inzwischen hörten mehr junge Leute als früher mit dem Boßeln auf, weil sie nicht jedes Winter-Wochenende damit verbringen wollten, sagt Biermann. „Freiwillig­es Engagement ist nicht mehr so beliebt.“Für den 19-jährigen Janssen ist dennoch klar, dass er seinem Club treu bleiben will. Dort boßelt er, seit er drei ist. „Das macht man eben so in einer Boßlerfami­lie“, sagt er. „Ohne Boßeln wäre man allein.“

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DPA-BILD: MOH44EN A44ANIMOGH­ADDAM EiF 4pieler der MaFFschaft „Hier up aF Westeraccu­m“holt währeFd der Liga-BegegFuFg im BoßelF gegeF das Team „Free Herut Ardorf“ordeFtlich aus uFd wirft die Kugel weit voF sich weg. Beim BoßelF geht es Ficht Fur um deF 4paß, soFderF auch um sportliche­F...
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DPA-BILD: A44ANIMOGH­ADDAM Nur wer deF 4port beherrscht, kaFF die rote Boßelkugel präzise 300 Meter oder weiter werfeF.

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