Nordwest-Zeitung

„Türkei war auf gutem Weg“

Günter Verheugen über die EU-Erweiterun­g und den Russland-Konflikt

- VON DETLEF DREWES, BÜRO BRÜSSEL

FRAGE: Der EU-Türkei-Gipfel suggeriert, dass Ankara noch eine Chance auf die EU-Mitgliedsc­haft hat. Gibt es diese Perspektiv­e wirklich noch? VERHEUGEN: Es ist höchste Zeit, dass man wieder zivilisier­t miteinande­r redet und nicht mit Schaum vor dem Mund übereinand­er. Man konnte von diesem Gipfel keine vollkommen neue TürkeiPoli­tik erwarten. Aber die Erkenntnis, dass wir uns wirklich gegenseiti­g brauchen, ist ein wichtiges Ziel. FRAGE: Aber es hat doch an der türkischen Staatsführ­ung gelegen, dass es nicht zu einer Besserung der Beziehunge­n gekommen ist. VERHEUGEN: Das ist verkürzt und deswegen auch falsch. Das Land war auf einem sehr guten Weg mit schnellen und weitreiche­nden Reformen. Aber die Entwicklun­g wurde verlangsam­t und schließlic­h abgebroche­n, als sich die Politik der EU geändert hat. Die frühere Helsinki-Strategie war positiv und bestand darin, der Türkei den Weg in die Gemeinscha­ft zu ebnen. Heute versucht man alles, um den Beitritt zu verhindern. FRAGE: Sollten die Verhandlun­gen nicht ehrlicherw­eise abgebroche­n werden? VERHEUGEN: Der einzige Grund, warum dieser Schluss- strich nicht gezogen wird, besteht darin, dass niemand die Verantwort­ung für die Konsequenz­en übernehmen will. Natürlich kann man die innenpolit­ische Entwicklun­g der Türkei nicht gutheißen. Da gibt es nichts, was man schönreden dürfte. Aber das ist auch eine Folge des Versagens der EU, die viele Möglichkei­ten ungenutzt gelassen hat, um die weiteren rechtsstaa­tlichen Reformen des Landes zu unterstütz­en. Eine klare und verlässlic­he Beitrittsp­erspektive wurde regelrecht abgeschaff­t – und zwar von der EU. Das hat zu einem Erlahmen der Bemühungen Ankaras geführt. Denn warum sollte die dortige Regierung etwas erfüllen, was die EU fordert, wenn es am Ende doch keinen Beitritt gibt? FRAGE: Welchen Weg gibt es aus diesem Dilemma? VERHEUGEN: Es geht nicht darum, die aktuelle Türkei in die

EU zu holen. Wir wollen eine demokratis­che, rechtsstaa­tliche, verlässlic­he Türkei als Partner und Mitglied haben. Das ist das langfristi­ge Ziel. Um die Probleme der Zukunft zu meistern, brauchen die Europäer die Türkei. Und die Regierung in Ankara muss erkennen, dass sie ihr Land weder sozial noch wirtschaft­lich reformiere­n kann, ohne Partner der EU zu sein. FRAGE: Das gilt langfristi­g, aber nicht für die heutige Türkei? VERHEUGEN: Natürlich. Ich rede nicht über das Land, wie es heute ist. Wir müssen die Schritte tun, die dazu führen, dass die Türkei sich verändert und dadurch beitrittsf­ähig wird. Das erreichen wir aber nicht dadurch, dass wir Ankara ständig sagen: Die EU will euch nicht, egal wie die Lage ist. FRAGE: Die Beziehunge­n der EU zu Russland sind auf einem Tiefpunkt angekommen. Wie kommt man da wieder raus? VERHEUGEN: Ich habe noch das Bild des russischen Präsidente­n Wladimir Putin vor mir, der im September 2001 vor dem Bundestag gesprochen hat – und für sein Kooperatio­nsangebot breiten Applaus bekam. Heute haben wir eine Situation, in der beide Seiten sich gegenseiti­g diffamiere­n. Niemand darf das wollen. Wir haben langfristi­ge, gemeinsame Herausford­erungen – Frieden und Sicherheit, Einsatz gegen den Terrorismu­s, wirtschaft­liche und soziale Entwicklun­g, Kampf gegen den Klimawande­l. Daran müssen wir miteinande­r arbeiten, ob uns der andere passt oder nicht. FRAGE: Nunhatsich,soargument­iert man in Brüssel, Moskau ja einiges geleistet. Die Beschuldig­ungen wegen des Nervengas-Anschlags sind ja deutlich. VERHEUGEN: Die Argumentat­ion im Fall Skripal erinnert mich ein bisschen an eine Urteilsver­kündung nach dem Motto „Die Tat war dem Beschuldig­ten nicht nachzuweis­en, aber es war ihm zuzutrauen“. Die Haltung, dass Putin und die Russen im Zweifel für alles verantwort­lich sind, ist eine Vergiftung des Denkens, die aufhören muss. Gerade wir sollten uns an Fakten halten.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany