Ein nicht enden wollender Traum
50 Jahre nach dem Tod von Martin Luther King kämpfen schwarze US-Bürger noch immer für ihre Rechte
Marsch auf Washington: Martin Luther King winkt am 28. August 1963 von der Lincoln Gedächtnisstätte den Demonstranten zu.
Das soziale Gefälle zwischen Weiß und Schwarz bleibt ein prägendes Problem der USA – auch 50 Jahre nach dem Tod von Martin Luther King.
MEMPHIS Wie kleine Paläste reihen sich die Villen im Nobelviertel Central Gardens entlang der Central Avenue aneinander, eingefasst von hohen Hecken, beschattet von alten Weißeichen. Die Eingangsportale von Säulen gesäumt – Memphis, ein Südstaatenidyll.
Charlie Morris wohnt weiter draußen. Bungalows prägen hier das Bild. Die Autos vor den Garagen sind kleiner, rostiger. 97 Jahre ist Charlie alt. Das Haar ist weiß, der Schritt schwer. Zwischen den Anwesen in Central Gardens und Charlie Morris’ Viertel liegen nur zehn Autominuten – und eine Farbe. Die Villengegend ist vorwiegend von Weißen bewohnt. Charlie Morris und seine Nachbarn sind Afroamerikaner, wie zwei Drittel der Menschen in der Stadt. 50 Jahre nach der Ermordung des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King jr. ist die Trennung nach Hautfarben in den USA per Gesetz längst Geschichte.
Dort, wo King starb, ist heute ein Museum
Doch die Lebensumstände der schwarzen Minderheit haben das Niveau der weißen Mehrheit noch immer nicht erreicht. „Das ist Amerika“, sagt Professor André Johnson
von der Universität Memphis. Die Gründe sind vielfältig. Versteckter Rassismus ist einer, die schwarze Minderheit sei ständig zum Kampf gezwungen. „Solange wir kämpfen, besteht Hoffnung, dass spätere Generationen über Dinge, über die wir heute reden, nicht mehr reden müssen.“
In Memphis, im US-Südstaat Tennessee, wo Martin Luther King am 4. April 1968 auf dem Balkon seines Hotelzimmers erschossen wurde, wird vieles noch deutlicher als in anderen Gegenden. Die Stadt und das Land feiern den Bürgerrechtler. Besucher aus aller Welt kommen, um das Civil Rights Museum zu sehen, eingerichtet in jenem Lorraine Motel, wo King starb.
Dutzende Lynchmorde blieben ungesühnt
Charlie Morris hat eine Geschichte zu erzählen, wie sie nicht mehr viele Afroamerikaner aus eigener Erfahrung weitertragen können. „Das Telefon klingelte, meine Tante rief an“, berichtet er aus dem Jahr 1939. Damals war er
18, sein Bruder Jesse Lee Bond war 20. Die Tante erzählte, dass Jesse Lee mit einem weißen Händler über die Frage in Streit geraten war, ob ihm eine Rechnung für Saatgut zustand. „Plötzlich fielen Schüsse“, sagt Morris. Anschließend sei die Leiche seines Bruders geschändet worden.
In der Hand hält Charlie Morris die Sterbeurkunde von Jesse Lee Bond: „Tod durch unfallbedingtes Ertrinken“steht dort. „Meiner Tante haben sie erzählt, sie werde ihren Job als Lehrerin verlieren, wenn sie die Wahrheit sagt, vielleicht auch ihr Leben“, erzählt er. Der Tod Bonds gehört zu den mehr als zwei Dutzend Fällen von Lynchjustiz gegen Schwarze, die heute allein im Umkreis von Memphis belegt sind, aber juristisch nie gesühnt wurden.
Diese Morde zählen zu den heftigsten Beispielen für das auch 50 Jahre nach Martin Luther King wohl größte gesellschaftliche Problem der USA: die Ungleichheit von Schwarzen und Weißen. Die staatliche Vertuschung von rassistisch motivierten Gewaltverbrechen
gehört zwar weitgehend der Vergangenheit an. Dafür, dass sie ganz ausgelöscht ist, legt aber kaum jemand die Hand ins Feuer.
Die Schwarzen landen immer am Ende
Noch spürbarer: die soziale Ungleichheit. „Man kann sich jede Statistik hernehmen, die man möchte: Die Schwarzen landen immer am Ende“, sagt Professor André Johnson. Die Arbeitslosenrate schwarzer US-Bürger liegt fast drei Prozentpunkte höher, als die der weißen. Schwarze haben ein deutlich niedrigeres Haushaltseinkommen. Einen Highschool-Abschluss schaffen fast 90 Prozent der weißen Jugendlichen, aber nur 75 Prozent der Afroamerikaner.
Am deutlichsten wird das Problem beim Vermögen, das über Generationen weitervererbt wird: Weiße Familien haben im Schnitt einen Grundstock von 919000 Dollar, schwarze 140 000 Dollar – eine weitaus größere Diskrepanz als noch 1963. „Die Schwarzen starteten in diesem Land
als Sklaven, sie hatten nichts. Das wirkt sich bis heute aus“, sagt Johnson. Martin Luther King jr. hatte das erkannt. Mit seiner Poor People’s Campaign machte er sich für höhere Einkommen Schwarzer stark und für mehr Jobs. Andere Bürgerrechtler, darunter Malcolm X (1925-1965), gaben seiner gewaltlosen, auf Dialog setzenden Strategie keine Chance. Diese Fraktion warb für harte Konfrontation.
Ronald Moten ist ein Cousin von Malcolm X. Der 48Jährige lebt in Anacostia, im rauen Südosten Washingtons. Die US-Hauptstadt ist zu mehr als der Hälfte von Schwarzen bewohnt, in Anacostia sind es 99 Prozent. Auf der Martin-Luther-KingJr.-Avenue betreibt er einen kleinen Laden. „Es wird immer schlimmer“, sagt Moten. Er beschreibt eine desaströse Mischung aus Frustration, verstecktem und offenem Rassismus, teils gepaart mit Trägheit und Selbstaufgabe.
Junge Schwarze werden viel häufiger von der Polizei grundlos gestoppt, manchmal werden sie aufs Revier mitgenommen. Manchmal werden sie erschossen, wie jüngst in Sacramento Polizisten 20 Schüsse auf einen Schwarzen in dessen Garten abgaben. Sie dachten, er hätte eine Waffe. Es war ein Handy.
Sacramento ist kein Einzelfall, und die Polizei ist nicht die einzige Strafverfolgungsbehörde, die sich irrt. „Es gibt Studien, die sagen, dass Afroamerikaner mit einer siebenmal höheren Wahrscheinlichkeit wegen Mordes verurteilt werden als Weiße“, sagt die Strafverteidigerin Cheryl Pilate aus Kansas (Missouri).
Vieles ist besser, nicht alles ist gut
Trotz all dieser Probleme: Das schwarze Amerika gehört unverrückbar zu den Vereinigten Staaten. Martin Luther Kings Geburtstag wird als gesetzlicher Feiertag begangen. 40 Millionen Menschen dunkler Hautfarbe leben in den USA. Viele sind erfolgreich, manche werden berühmt. Der dunkelhäutige Barack Obama wurde für zwei Amtszeiten zum Präsidenten der über 320 Millionen Einwohner gewählt – nur wenige Jahrzehnte nachdem mit der Abschaffung der „Jim Crow“-Gesetze die Segregation der Schwarzen gesetzeswidrig wurde.
Heute hat sich vieles gewandelt, vieles zum Positiven. Doch nicht alles ist gut. Als Charlie Morris aus Memphis vom Tod seines Bruders erfuhr, schnappte er sich eine Pistole und wollte sich rächen. „Meine Mutter hat es mir ausgeredet.“Heute sagt er über sein Leben: „Ich kann mich nicht beschweren.“