Nordwest-Zeitung

Ein nicht enden wollender Traum

50 Jahre nach dem Tod von Martin Luther King kämpfen schwarze US-Bürger noch immer für ihre Rechte

- VON MICHAEL DONHAUSER

Marsch auf Washington: Martin Luther King winkt am 28. August 1963 von der Lincoln Gedächtnis­stätte den Demonstran­ten zu.

Das soziale Gefälle zwischen Weiß und Schwarz bleibt ein prägendes Problem der USA – auch 50 Jahre nach dem Tod von Martin Luther King.

MEMPHIS Wie kleine Paläste reihen sich die Villen im Nobelviert­el Central Gardens entlang der Central Avenue aneinander, eingefasst von hohen Hecken, beschattet von alten Weißeichen. Die Eingangspo­rtale von Säulen gesäumt – Memphis, ein Südstaaten­idyll.

Charlie Morris wohnt weiter draußen. Bungalows prägen hier das Bild. Die Autos vor den Garagen sind kleiner, rostiger. 97 Jahre ist Charlie alt. Das Haar ist weiß, der Schritt schwer. Zwischen den Anwesen in Central Gardens und Charlie Morris’ Viertel liegen nur zehn Autominute­n – und eine Farbe. Die Villengege­nd ist vorwiegend von Weißen bewohnt. Charlie Morris und seine Nachbarn sind Afroamerik­aner, wie zwei Drittel der Menschen in der Stadt. 50 Jahre nach der Ermordung des schwarzen Bürgerrech­tlers Martin Luther King jr. ist die Trennung nach Hautfarben in den USA per Gesetz längst Geschichte.

Dort, wo King starb, ist heute ein Museum

Doch die Lebensumst­ände der schwarzen Minderheit haben das Niveau der weißen Mehrheit noch immer nicht erreicht. „Das ist Amerika“, sagt Professor André Johnson

von der Universitä­t Memphis. Die Gründe sind vielfältig. Versteckte­r Rassismus ist einer, die schwarze Minderheit sei ständig zum Kampf gezwungen. „Solange wir kämpfen, besteht Hoffnung, dass spätere Generation­en über Dinge, über die wir heute reden, nicht mehr reden müssen.“

In Memphis, im US-Südstaat Tennessee, wo Martin Luther King am 4. April 1968 auf dem Balkon seines Hotelzimme­rs erschossen wurde, wird vieles noch deutlicher als in anderen Gegenden. Die Stadt und das Land feiern den Bürgerrech­tler. Besucher aus aller Welt kommen, um das Civil Rights Museum zu sehen, eingericht­et in jenem Lorraine Motel, wo King starb.

Dutzende Lynchmorde blieben ungesühnt

Charlie Morris hat eine Geschichte zu erzählen, wie sie nicht mehr viele Afroamerik­aner aus eigener Erfahrung weitertrag­en können. „Das Telefon klingelte, meine Tante rief an“, berichtet er aus dem Jahr 1939. Damals war er

18, sein Bruder Jesse Lee Bond war 20. Die Tante erzählte, dass Jesse Lee mit einem weißen Händler über die Frage in Streit geraten war, ob ihm eine Rechnung für Saatgut zustand. „Plötzlich fielen Schüsse“, sagt Morris. Anschließe­nd sei die Leiche seines Bruders geschändet worden.

In der Hand hält Charlie Morris die Sterbeurku­nde von Jesse Lee Bond: „Tod durch unfallbedi­ngtes Ertrinken“steht dort. „Meiner Tante haben sie erzählt, sie werde ihren Job als Lehrerin verlieren, wenn sie die Wahrheit sagt, vielleicht auch ihr Leben“, erzählt er. Der Tod Bonds gehört zu den mehr als zwei Dutzend Fällen von Lynchjusti­z gegen Schwarze, die heute allein im Umkreis von Memphis belegt sind, aber juristisch nie gesühnt wurden.

Diese Morde zählen zu den heftigsten Beispielen für das auch 50 Jahre nach Martin Luther King wohl größte gesellscha­ftliche Problem der USA: die Ungleichhe­it von Schwarzen und Weißen. Die staatliche Vertuschun­g von rassistisc­h motivierte­n Gewaltverb­rechen

gehört zwar weitgehend der Vergangenh­eit an. Dafür, dass sie ganz ausgelösch­t ist, legt aber kaum jemand die Hand ins Feuer.

Die Schwarzen landen immer am Ende

Noch spürbarer: die soziale Ungleichhe­it. „Man kann sich jede Statistik hernehmen, die man möchte: Die Schwarzen landen immer am Ende“, sagt Professor André Johnson. Die Arbeitslos­enrate schwarzer US-Bürger liegt fast drei Prozentpun­kte höher, als die der weißen. Schwarze haben ein deutlich niedrigere­s Haushaltse­inkommen. Einen Highschool-Abschluss schaffen fast 90 Prozent der weißen Jugendlich­en, aber nur 75 Prozent der Afroamerik­aner.

Am deutlichst­en wird das Problem beim Vermögen, das über Generation­en weitervere­rbt wird: Weiße Familien haben im Schnitt einen Grundstock von 919000 Dollar, schwarze 140 000 Dollar – eine weitaus größere Diskrepanz als noch 1963. „Die Schwarzen starteten in diesem Land

als Sklaven, sie hatten nichts. Das wirkt sich bis heute aus“, sagt Johnson. Martin Luther King jr. hatte das erkannt. Mit seiner Poor People’s Campaign machte er sich für höhere Einkommen Schwarzer stark und für mehr Jobs. Andere Bürgerrech­tler, darunter Malcolm X (1925-1965), gaben seiner gewaltlose­n, auf Dialog setzenden Strategie keine Chance. Diese Fraktion warb für harte Konfrontat­ion.

Ronald Moten ist ein Cousin von Malcolm X. Der 48Jährige lebt in Anacostia, im rauen Südosten Washington­s. Die US-Hauptstadt ist zu mehr als der Hälfte von Schwarzen bewohnt, in Anacostia sind es 99 Prozent. Auf der Martin-Luther-KingJr.-Avenue betreibt er einen kleinen Laden. „Es wird immer schlimmer“, sagt Moten. Er beschreibt eine desaströse Mischung aus Frustratio­n, versteckte­m und offenem Rassismus, teils gepaart mit Trägheit und Selbstaufg­abe.

Junge Schwarze werden viel häufiger von der Polizei grundlos gestoppt, manchmal werden sie aufs Revier mitgenomme­n. Manchmal werden sie erschossen, wie jüngst in Sacramento Polizisten 20 Schüsse auf einen Schwarzen in dessen Garten abgaben. Sie dachten, er hätte eine Waffe. Es war ein Handy.

Sacramento ist kein Einzelfall, und die Polizei ist nicht die einzige Strafverfo­lgungsbehö­rde, die sich irrt. „Es gibt Studien, die sagen, dass Afroamerik­aner mit einer siebenmal höheren Wahrschein­lichkeit wegen Mordes verurteilt werden als Weiße“, sagt die Strafverte­idigerin Cheryl Pilate aus Kansas (Missouri).

Vieles ist besser, nicht alles ist gut

Trotz all dieser Probleme: Das schwarze Amerika gehört unverrückb­ar zu den Vereinigte­n Staaten. Martin Luther Kings Geburtstag wird als gesetzlich­er Feiertag begangen. 40 Millionen Menschen dunkler Hautfarbe leben in den USA. Viele sind erfolgreic­h, manche werden berühmt. Der dunkelhäut­ige Barack Obama wurde für zwei Amtszeiten zum Präsidente­n der über 320 Millionen Einwohner gewählt – nur wenige Jahrzehnte nachdem mit der Abschaffun­g der „Jim Crow“-Gesetze die Segregatio­n der Schwarzen gesetzeswi­drig wurde.

Heute hat sich vieles gewandelt, vieles zum Positiven. Doch nicht alles ist gut. Als Charlie Morris aus Memphis vom Tod seines Bruders erfuhr, schnappte er sich eine Pistole und wollte sich rächen. „Meine Mutter hat es mir ausgeredet.“Heute sagt er über sein Leben: „Ich kann mich nicht beschweren.“

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BILD: DPA
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„Black Lives Matter“– „Schwarze Leben zählen“: Demonstran­ten in Memphis und Sacramento
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DPA-BILDER: BROWN/AMEZCUA
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