Nordwest-Zeitung

Horror in der „guten Stube“

Verstören0­es Ver9rechen in Münster – Weltweite Aufmerksam­keit in wenigen Minuten

- VON CARSTEN LINNHOFF, CLAUS HAFFERT UND STEFFEN TRUMPF

Kaum ein an0erer Ort :ermittelt so sehr 0ie Vorstellun­g :on Gemütlichk­eit wie 0er Plat; :or 0em Kie<enkerl. Am Samstag wur0e er ;um Ziel einer Amokfahrt.

MÜNSTER Es ist ein bewegendes Bild. Mitarbeite­r der Gaststätte „Großer Kiepenkerl“legen am Sonntag Blumen nieder und stellen eine Kerze auf. Einige weinen und nehmen sich in den Arm. Neben ihnen ragt der bronzene Kiepenkerl auf, ein Wahrzeiche­n Münsters. Seit diesem Samstag steht die Figur des fahrenden Händlers mit Tragekorb, Pfeife und Stock nicht mehr nur für westfälisc­he Folklore, sondern auch für eine tödliche Amokfahrt. Unmittelba­r vor dem Standbild hat ein Mann einen Campingbus in eine Menschenme­nge gesteuert. Zwei Menschen wurden getötet, mehr als 20 verletzt. Der Täter hat sich anschließe­nd erschossen.

Wenn man einen Ort auswählen müsste, der die Essenz gutbürgerl­icher deutscher Gemütlichk­eit vermittelt, dann könnte das der Platz am Kiepenkerl sein. Wie an einer Perlenkett­e reihen sich hier die Giebelhäus­er auf. Etwas weiter geht die Straße in den Prinzipalm­arkt über, „Münsters gute Stube“. Er kenne den Tatort sehr gut, sagt NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) bei seinem Besuch am Sonntag: „Ich habe als erstes gedacht: Ein schrecklic­her Anschlag an einem Ort, an dem ich selbst schon gesessen habe. Und in dem Moment erinnert man sich genau daran und denkt, es hätte jeden treffen können.“Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) sagt: „Dieses feige und brutale Verbrechen hat uns alle sehr betroffen gemacht.“

Rückblende: der Platz vor dem Kiepenkerl-Standbild am Samstagnac­hmittag. Wer draußen noch einen Platz ergattert hat, kann sich glücklich schätzen. Es ist der erste richtig warme Frühlingst­ag, alle wollen in der Sonne sitzen. Die Uhr zeigt 15.27 Uhr – Kaffee-und-Kuchen-Zeit – als es passiert. Für die Menschen auf dem Platz muss es gekommen sein wie ein Meteoriten­einschlag.

Handy-Fotos vom Tatort: Der silberfarb­ene Campingbus steht zwischen Stühlen und Tischen, Menschen helfen sich vom Boden auf. Der Horror in der guten Stube. „Erste Bilder und Nachrichte­n aus Münster brechen mir das Herz“, twittert Jan Josef Liefers, der Professor Boerne aus dem Münster-„Tatort“. Die Stadt sei „einer der friedlichs­ten und freundlich­sten Orte“, die er kenne.

Jennifer Bäumer ist gerade auf dem Weg zum Dienst, als ihr Handy klingelt. Eine Freundin will wissen, was mit ihrem Freund ist – er arbeitet doch im „Kleinen Kiepenkerl“, gleich dort, wo es passiert ist! Zum Glück kann Jennifer schnell aufatmen: „Er war noch auf dem Weg zur Arbeit, als der Wagen in die Gäste gefahren ist“, erzählt sie.

Die Polizisten sperren immer größere Teile der Altstadt

ab. Der Prinzipalm­arkt und der Platz vor dem Dom, wo am Mittag noch reges Markttreib­en geherrscht hat, sind jetzt menschenle­er. Abgesperrt sind auch einige Straßenzüg­e zwei Kilometer vom Tatort entfernt. Hier soll der Täter gelebt haben. Kurz nach 21 Uhr ist ein Knall zu hören: Die Ermittler haben die Wohnungstü­r aufgespren­gt. Sie finden eine unbrauchba­r gemachte Maschinenp­istole und Knallkörpe­r.

Unmittelba­r nach der Tat denken viele an einen islamistis­chen Terroransc­hlag. Die Bilder aus Nizza, Berlin und London haben sich eingebrann­t. Dort und an anderen Orten waren islamistis­che Attentäter mit Fahrzeugen in Menschenme­ngen gerast. Wenn es einem Terroriste­n darum ginge, das Grundvertr­auen der Deutschen möglichst

stark zu erschütter­n, dann müsste er ein Ziel wie den Platz am Kiepenkerl auswählen: Der Faktor der Verunsiche­rung wäre vielleicht sogar noch größer als beim Anschlag auf den Berliner Weihnachts­markt, weil es sich hier eben nicht um die Hauptstadt handelt, sondern um die Provinz. Die Botschaft, die davon ausgeht, ist: Es kann jeden treffen.

Noch im Verlauf des Samstagnac­hmittags wird aber deutlich, dass es sich bei dem Täter wohl nicht um einen Terroriste­n handelt, sondern eher um einen Amokfahrer. Es geht um einen 48 Jahre alten gebürtigen Sauerlände­r, der in Münster gewohnt hat. Er soll psychische Probleme gehabt haben. Was ihn angetriebe­n hat, können Polizei und Staatsanwa­ltschaft noch nicht sagen.

Es hat etwas Verstörend­es, dass jemand nur ein schweres Verbrechen begehen muss, und schon ist ihm binnen Minuten weltweite Aufmerksam­keit sicher. Eben darum, so sagen Psychologe­n, gehe es manchen Menschen, die einen „erweiterte­n Suizid“begehen. Sie wollen andere mit in den Tod reißen, um ihr Leben nicht dort zu beenden, wo sie es geführt haben: am Rand der Gesellscha­ft.

Münster ist jedenfalls schlagarti­g Top News. Donald Trump bete für die Opfer, teilt das Weiße Haus mit. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nutzt den Vorfall für einen Angriff auf Frankreich­s Staatschef Emmanuel Macron, der zuvor Vertreter einer syrischen Kurdenmili­z empfangen hat: „Da, Ihr seht doch, was die Terroriste­n in Deutschlan­d machen, oder?“

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DPA-BILD: YOUNG Der Tatwagen wird vor dem Gasthaus „Großer Kiepenkerl“abgeschlep­pt. Der Fahrer war am Samstag mit einem Kleintrans­porter vor dem Restaurant in eine Gruppe von Menschen gerast und hatte zwei von ihnen getötet.

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