WARUM GLAUBEN WIR AN VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN?
Gckhams Rasiermesser ist ein scharfes Werkzeug. Geschmiedet vor Hunderten von Jahren, nutzen es auch heute noch Wissenschaftler weltweit. Nicht zum Rasieren, sondern als Wegweiser. „Das funktioniert meistens wunderbar“, sagt Karl Hepfer. Denn Ockhams Rasiermesser trennt Kompliziertes von Einfachem: Für einen Sachverhalt ist immer die am wenigsten komplexe Erklärung allen anderen vorzuziehen. „Nur bei Verschwörungstheorien geht das komplett nach hinten los“, sagt Hepfer. „Die brauchen nämlich nur ein einziges Prinzip, mit dem sie alles erklären.“
Karl Hepfer lehrt Philosophie an der Uni Erfurt. Und er hat ein Buch über Verschwörungstheorien geschrieben – eine philosophische Kritik der Vernunft. „Unser Gehirn“, sagt er, „ist so gebaut, dass es auf einfache Erklärungen anspringt.“Wird es komplizierter, dann schaltet es ab. Ockhams Rasiermesser ist praktisch schon von Werk aus eingebaut. Das macht sich auch dann bemerkbar, wenn traditionelle Deutungsmuster nicht mehr funktionieren, wenn alles komplizierter wird.
Und alles wird immer komplizierter. „Das fängt mit der einfachen Lebensverwaltung an“, sagt Hepfer. „Haben Sie in letzter Zeit mal selbst versucht, Ihre Steuererklärung auszufüllen?“
Der Typ mit der Katze ist der Böse
Doch wird das Leben durch den Glauben an die Weltverschwörung der Illuminaten, an Chemtrails oder an UFOs leichter? „Das Leben wird einfacher, wenn es ein klares Muster gibt“, sagt Hepfer. Dann, wenn die Welt in Gut und Böse geteilt ist. Ein Prinzip für alles.
„Das haben normale Theorien sehr selten, bei Verschwörungstheorien ist das die Regel“, sagt Hepfer. Dadurch entfällt die Grauzone. „Und die Grauzone ist das, was es unübersichtlich und schwierig macht.“Das ist ein bisschen wie in alten „James Bond“-Filmen. „Da wussten Sie genau: Der Typ mit der Katze ist der Böse.“
Im Grunde treffen sich dort alle Verschwörungstheorien: Wir sind die Guten, und die Bösen haben sich gegen uns verschworen. Sie vergiften uns aus Flugzeugen, kontrollieren unsere Gedanken mit „Strahlenwaffen“, sie verursachen Kriege, steuern Flüchtlingsströme und sorgen dafür, dass das Benzin immer teurer wird. Wer „sie“genau sind, ist dabei zweitrangig – Reptiloiden, Illuminaten, Juden. Wirklich wichtig ist eigentlich nur das Grundmuster.
Und das offenbart immer Gut und Böse – und damit einen Schuldigen. Das wird vor allem deutlich bei Pandemien, Anschlägen, Unglücken. „Großereignisse, die wirklich verstörend sind“, sagt Wissenschaftler Hepfer. „Da brauchen wir auf jeden Fall einen Schuldigen, damit wir uns besser fühlen.“Das Attentat auf John F. Kennedy, der Abschuss von Malaysia Airlines-Flug MH 17 über der Ukraine, die Pest-Welle, die zwischen 1346 und 1353 Millionen Europäer dahinraffte.
„In der Vergangenheit hatten die meisten Verschwörungsideologien eine antisemitische Funktion und Zielsetzung“, sagt der Historiker Wolfgang Wippermann. „Nach und neben ,den Juden‘ kamen jedoch die Illuminaten, Freimaurer, Kommunisten und Bilderberger hinzu.“Trotzdem ist sich Wippermann sicher: „Alle Weltverschwörungstheorien haben eine antisemitische Bedeutung und Funktion.“Neue Namen, alte Muster.
Das Internet als Brandbeschleuniger
Wippermann, 1945 in Bremerhaven geboren, veröffentlicht bald sein zweites Buch zum Thema Verschwörungstheorien. Im Prinzip, sagt er, funktionieren diese heute genauso wie vor Hunderten von Jahren. „Doch heute, im digitalen Zeitalter werden Verschwörungsideologien leichter konstruiert und verbreitet, aber schwerer dekonstruiert und widerlegt“, sagt der Historiker, der an der Freien Universität Berlin lehrt. „Bei den im Internet verbreiteten Verschwörungsideologien versagen die klassischen Methoden der Ideologieund Ouellenkritik.“
Das Netz macht die Verschwörungstheorien sichtbarer – und wirkt bisweilen wie ein Brandbeschleuniger. Facebook-Gruppen, YoutubeKanäle, Blogs – allein für den Suchbegriff „Chemtrails“spuckt Google fast 21 Millionen Ergebnisse aus. Wer ein Video zum Thema anklickt, bekommt von Youtube weitere Filmchen vorgeschlagen: „Weltkrieg 1939: Der wahre Grund“, „Bilderberger – Das geheime Zentrum der Macht“, „Das verbotene Wissen über Wasser“– die Liste scheint schier endlos. Alle sozialen Netzwerke nutzen ähnliche Algorithmen. Dafür wurde der Begriff „Filterblase“erfunden.
Ein weiteres Problem hat Karl Hepfer in seinem 2015 erschienenen Buch benannt: asymmetrische Beweise. „Normale Theorien leiten aus der Tatsache, dass keine Belege für oder gegen ihre Beschen hauptungen zu finden sind, ab, dass weitere Forschung nötig ist, oder aber die Theorie aufgegeben und durch eine andere ersetzt werden muss.“
Verschwörungstheoretiker sehen die Abwesenheit von Beweisen hingegen meist als Beleg für ihre Theorie. „Sie belegt in ihren Augen allenfalls, wie lang der Arm der Verschwörer ist.“Auch das Vorhandensein noch so vieler Belege kann sie aus diesem Grund nicht überzeugen.
Vereinfacht bedeutet das: Für wen die Lüge zur Wahrheit wird, für den werden Fakten zur Lüge.
Dass es eine gesunde Skepsis gibt, dass man nicht alle offiziellen Versionen anstandslos hinnimmt, findet auch Hepfer richtig. „Die Frage aber, wann es ins Pathologische abdriftet, die ist schwer zu beantworten.“
Die gesunde Skepsis kommt nicht von ungefähr. Denn es gibt auch Verschwörungstheorien, die sich später als wahr herausstellten. So gab die Sowjetunion erst Anfang der 90er Jahre zu, dass das Massaker von Katyn von Angehörigen des russischen Innenministeriums und nicht von der deutschen Wehrmacht verübt wurde. Bei dem Massenmord kamen im Frühjahr 1940 mehr als 4400 gefangene Polen ums Leben.
Manche Verschwörung ist real
Auch der Putsch gegen die iranische Regierung von Mohammad Mossadegh im August 1953 galt lange als Verschwörungstheorie. Erst 60 Jahre später gab der US-Geheimdienst CIA zu, in den Staatsstreich verwickelt gewesen zu sein.
Lange dauerte auch die Aufdeckung der sogenannten Stay-behind-Organisationen in West-Europa – geheime Partisanentruppen, die während des Kalten Kriegs im Falle einer Invasion der Sowjetunion hinter der Front Guerilla-Aktionen ausüben sollten. Sie wurden von Geheimdienstoffizieren ausgebildet und bestanden nicht selten aus fanatischen Antikommunisten und Rechtsextremen.
Bekannt wurden sie Anfang der 90er Jahre durch die Aufdeckung der italieniIn Organisation „Gladio“. Diese soll auch an terroristischen Anschlägen beteiligt gewesen sein.
Jeder Mitwisser erhöht das Risiko
Schon der florentinische Staatstheoretiker NiccolP Machiavelli widmete in seinem 1541 erschienenen Hauptwerk „Discorsi“den Verschwörungen ein eigenes Kapitel – und stellte schon damals fest, was heute noch gilt: Je größer die Zahl der Mitwisser, umso sicherer ist es, dass die Verschwörung auffliegt. Für Machiavelli wird es gefährlich, sobald „die Zahl der Mitwisser drei oder vier übersteigt“. Wie also soll eine weltumspannende Verschwörung unentdeckt bleiben? Warum gibt es bei den Illuminaten keine Whistleblower wie Edward Snowden oder Chelsea Manning? Die Antworten vieler Verschwörungstheoretiker sind dünn – Repressionen gegen Involvierte, Abhängigkeit der Wissenschaftler von der Industrie. Manche Verschwörungstheorien werden bewusst lanciert – durch Propaganda, Fake News, Gerüchte. „Verschwörungsideologien basieren nicht immer auf bewusst gestreuten Falschmeldungen“, sagt Historiker Wippermann. Ist mit ihnen jedoch eine politische Zielsetzung verbunden, „haben Verschwörungstheorien den Charakter von Verschwörungsideologien“.
dieses Bild passen der fingierte polnische Angriff als Rechtfertigung des deutsche Überfalls 1939 oder „Der große Austausch“– eine in Kreisen der stramm rechten „Identitären Bewegung“beliebten Verschwörungstheorie, nach der die Europäer von einer internationalen Finanz- und Machtelite gegen Muslime ausgetauscht werden sollen.
„Heute sehen wir ganz klar das wieder aufleben, was in unseligen Zeiten deutscher Geschichte Gang und Gäbe war: Verschwörungstheorien, um den politischen Gegner zu diskreditieren“, sagt Philosoph Hepfer.
Ein Aluhut für Beatrix von Storch
Vor allem Rechtspopulisten befeuern die Gerüchteküche. So gewann AfD-Politikerin Beatrix von Storch im vergangenen Oktober den „Goldenen Aluhut“, einen Negativpreis für Verschwörungstheoretiker, für „ihre Äußerungen zum Klimawandel, ihre verschwörungsideologischen Ansichten, und ihr Wirken und Schaffen als Mitglied der AfD“. Sie hatte unter anderem behauptet, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wolle sich nach Südamerika absetzen.
Stars der Szene sind neben anderen der vom RBB geschasste Moderator Ken Jebsen und Publizist Jürgen Elsässer. Jebsen ist Teil der rechtsoffenen und israelfeindlichen „Truther“-Bewegung, die überzeugt ist, dass die Terroranschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 von der USRegierung inszeniert wurden. Sein Youtube-Kanal hat mehr als 180 000 Abonnenten, seine Videos teilweise eine Viertelmillion Aufrufe.
Er agitiert gegen „Mainstream-Medien“, die USA und „zionistischen Rassismus“, vermischt Wahres mit Halbwahrem und Falschaussagen. Elsässer befeuert und verbreitet mit seiner rechtspopulistischen Zeitschrift „Compact“regelmäßig Verschwörungstheorien. Das Magazin wird monatlich rund 40000 mal verkauft.
Ähnliche Zahlen spiegeln sich auch in einer Umfrage des Psychologen Sebastian Bartoschek aus Münster wider. Demnach glaubte zehn Jahre nach den Anschlägen vom 11. September jeder zweite Deutsche, die Attentate seien anders abgelaufen, als es die US-Regierung behauptet hat. Jeder Vierte glaubte wie Ken Jebsen, die Türme des World Trade Centers seien gesprengt worden.
Sei es der Glaube an den fingierten Anschlag auf die Zwillingstürme, an von Juden vergiftete Brunnen oder die Angst vor dem „großen Austausch“– was vor Hunderten von Jahren schon galt, gilt auch heute noch. Oder wie Wolfgang Wippermann schreibt: „Krisenzeiten sind Verschwörungszeiten.“