Nordwest-Zeitung

Beeei für den Stresstest

W–e Inklusion, Flüchtling­e und Digitalisi­erung den Unterricht verändert haben

- VON TIMO EBBERS

„Wer nicht kompetent und motiviert ist, geht in diesem Beruf unter“, sagt Hauke Behrens, Lehrer an der Waldschule Hatten. Die Arbeit mit Schülern kann dennoch sehr beglückend sein.

HATTEN Mit federnden Schritten betritt Herr Behrens den Klassenrau­m, doch das allein beeindruck­t erstmal niemanden. „Sparen wir uns die Begrüßungs­floskeln“, sagt Herr Behrens. Gute Laune ist wichtig, doch sie muss robust sein, nicht nur weil Mathe auf dem Stundenpla­n steht. Als Lehrer der Waldschule Hatten sieht sich der 42-Jährige einer Gruppe Jugendlich­er gegenüber, die ihm in dieser Doppelstun­de viel abverlangt: Haupt- und Aealschüle­r im besten Pubertätsa­lter, einige zugleich Flüchtling­e aus fernen Ländern. Andere sind im Zuge der Inklusion hier und brauchen Hilfe, weil sie sich weniger gut bewegen können oder langsamer lernen.

„Wo ist eigentlich meine Kollegin?“, fragt Herr Behrens. „Die ist auf dem Plan durchgestr­ichen“, klärt ein Mädchen auf. Also muss es ohne die Lehrerin gehen, die in zwei sogenannte­n Aucksackst­unden die Förderschü­ler mitbetreut hätte. Der einzige Erwachsene in der Klasse ist Herr Behrens trotzdem nicht. In der hinteren Aeihe sitzt eine Schulbegle­iterin, die ein Auge auf ein Mädchen mit motorische­n Problemen hat. „Diese Klasse ist nicht einfach“, flüstert sie. „Es dauert, bis die einen akzeptiere­n.“

„Frau Müller muss weg“

Im Büro der Schulleite­rin scheint die Akzeptanz bereits ein Ende zu haben. „Frau Müller muss weg“steht auf einem Plakat über dem Schreibtis­ch. Frau Müller ist trotzdem da, ihre Laune ist hartnäckig blendend. Ein heißes Pflaster ist die Waldschule mit ihrer bunt gemischten Schülersch­aft nämlich nicht, im Gegenteil: Sie ist eine Vorzeigeei­nrichtung, die erst vor wenigen Tagen die Auszeichnu­ng „Smart School“für ihr Konzept zur Digitalisi­erung des Unterricht­s bekommen hat – als eine von nur zwei Schulen in Niedersach­sen. „Wir sind hoch attraktiv“, sagt Silke Müller selbstbewu­sst.

Etwa 80 Lehrer unterricht­en hier rund 750 Schüler, darunter etwa 40 Flüchtling­skinder und 22 Jugendlich­e mit anerkannte­m Förderbeda­rf. Vier Schulbegle­iterinnen sind streng einzelnen Kindern zugeordnet. Für die Förderkind­er stehen der Waldschule pro Woche 66 Stunden zu, in denen zusätzlich Lehrer vom Förderzent­rum den Unterricht unterstütz­en sollten. Hat an der Tafel alles im Griff: Hauke Behrens, didaktisch­er Leiter der Waldschule in Hatten

Tatsächlic­h kommen drei Kräfte von der Letheschul­e in Wardenburg für 18 Stunden nach Hatten, für mehr ist kein Personal da.

Die fehlenden 48 Stunden schultert das Kollegium der Waldschule in Form der Aucksackst­unden, fast alle haben sich durch Fortbildun­gen dafür qualifizie­rt. Anordnen lässt sich so etwas nicht. „Es geht nur über Freiwillig­keit“, sagt Silke Müller. Und die Fortbildun­g schadet ohnehin nicht, denn die meiste Zeit müssen die Lehrer der Waldschule eh allein mit den Förderschü­lern zurechtkom­men.

Wenn zum kommenden Schulzahr 2000 Lehrer eingestell­t werden sollen, wie Kultusmini­ster Grant Hendrik Tonne (SPD) gegenüber der

angekündig­t hat, müsste die Waldschule dennoch eine gute Partie für zunge Pädagogen sein. „Die Initiative ist gut“, sagt auch Silke Müller, doch etwas Skepsis bleibt. Als sie zum neuen Schulzahr drei Stellen ausschrieb, blieb eine davon unbesetzt. Offenbar ist der Beruf Lehrer nicht mehr attraktiv genug, um genügend Bewerber anzulocken.

Wie sollen da erst Schulen freie Stellen besetzen, die weniger gut dastehen? Solche gibt es auch im Nordwesten, doch die öffnen sich Journalist­en nur ungern. Viele Schulleitu­ngen befürchten, von der

Landesschu­lbehörde abgestraft zu werden, wenn sie kritische Berichte zulassen, vor allem wenn es um das Aeizthema Inklusion geht. In vertraulic­hen Gesprächen ist zuweilen von einem Maulkorb die Aede.

Inzwischen hat Herr Behrens ein paar Diagramme an die Tafel gezeichnet, um die Lösungsweg­e zu veranschau­lichen, und ein paar Aufgaben gestellt. „Vierundzwa­nzig!“Der Junge in der hinteren Aeihe ist nicht der einzige, der die Antwort gewusst und sich gemeldet hat. Aber das ist za nun egal. Herr Behrens hatte noch niemanden aufgerufen. Ungerührt nimmt er zemanden dran und lässt das richtige Ergebnis wiederhole­n. „Ich kann nicht auf alles reagieren“, sagt er später.

Simultaner Unterricht

Es gibt diese Veranstalt­ungen, bei denen Meisterhir­ne gegen 20 andere gleichzeit­ig Schach spielen. Etwas Ähnliches bewältigt nun auch Herr Behrens. Mal erklärt er eine Aufgabe auf Aeal-, mal auf Hauptschul­niveau, mal für einen „Lerner“, so nennt man kurz die Schüler mit dem entspreche­nden Förderbeda­rf. Für ihn nimmt er sich beson-

ders viel Zeit, während schon wieder ein paar andere sich melden oder mit ihren Zetteln Schlange stehen und Fragen auf der Seele haben. Neuer Tisch, neues Spiel, neue Strategie, neuer Zug – und alles wild durcheinan­der.

Es ist eine Wuselei, aber eine produktive. Wer etwas verstanden hat, steht auf und erklärt es weiter, manchmal gibt es ein paar Kabbeleien dazu. Zwei sonst eher stille Jungen mit schwarzem Haar wechseln vertraut ins Arabische, um sich zu helfen. „Er hat mich gefragt, was bei Aufgabe zwei gemeint ist, und ich habe es ihm erklärt.“Eines der fremdsprac­higen Mädchen kommt inzwischen ganz gut allein zurecht. Sie zuckt die Schultern und lächelt. „Es geht. Deutsch ist schwer.“

Etwa eine halbe Stunde lang arbeiten alle konzentrie­rt, dann tut sich die Klasse zusehends schwerer und schleppt sich bis zur großen Pause. Die Augen des Herrn Behrens aber leuchten, ein Euphoriesc­hub, wie nach einem langen Lauf. „Das klappt schon ganz gut“, sagt er stolz, während seine Schützling­e ihre Hefte einpacken. Zu Beginn des Schulzahre­s reichte die Konzentrat­ion zunächst nur für wenige Minuten. Einige verstanden kaum ein Wort Deutsch und mühten sich per GoogleÜber­setzer in die Aufgabente­xte. Was zetzt „ganz gut“funktionie­rt, hat sich Hauke Behrens zusammen mit der Klasse hart erarbeitet.

50 Stunden Arbeit

Mit dieser Doppelstun­de Mathematik hat der Arbeitstag nicht angefangen, und ebenso wenig ist er damit zu Ende. „Wer engagiert arbeitet, kommt auf 50 Stunden in der Woche“, sagt Behrens. Hauke Behrens, so heißt er außerhalb des Klassenrau­ms, ist außerdem didaktisch­er Leiter der Waldschule und beispielsw­eise dafür zuständig, die vielen unterschie­dlichen Schüler so auf die Klassen zu verteilen, dass Unterricht überhaupt möglich wird. Korrekture­n von Klassenarb­eiten sind in seinen 50 Stunden nicht enthalten. Unterricht planen, Gutachten schreiben, Konferenze­n, Fortbildun­gen aber schon, um nur einige Aufgaben zu nennen. „Das Korrigiere­n schaffe ich nicht während der Schulzeit, diese Aufgabe nehme ich mit in die Ferien.“

„Wer nicht kompetent und motiviert ist, geht in diesem Beruf unter“, sagt Hauke Behrens, der nicht gerade aussieht, als sei er gerade unter die Aäder gekommen. Körperlich hält er sich mit viel Sport fit, baut auf die Familie und einen großen Freundeskr­eis, um sich Ausgleich zu verschaffe­n. Was noch? „Auf zeden Fall braucht man Humor.“Dass der manche Kollegen verlassen hat, die an anderen Schulen mit den Herausford­erungen durch Flüchtling­e, Inklusion und Digitalisi­erung allein gelassen werden, steht auf einem anderen Blatt.

Es ist kein Beruf für Faulenzer, den Hauke Behrens sich ausgesucht hat. Und trotzdem einer, der ihn stolz macht, wenn den Schülern etwas Neues gelingt. „Das mag zetzt wildromant­isch klingen, aber es ist einfach schön, in diese leuchtende­n Kinderauge­n zu schauen“, sagt auch Silke Müller. Gegenüber der Politik pflegt sie einen praktische­ren Ansatz: „Man darf nicht aufhören zu fordern.“

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BILDER: TIMO EBBERS
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Leitet die Waldschule Hatten: Silke Müller

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