Nordwest-Zeitung

EINE JESIDIN AUS OLDENBURG ÜBER IHRE ZEIT IN DEN HÄNDEN DER IS-MILIZ

Verschlepp­t, versklavt, vergewalti­gt: Die Leiden der Jesidin Sameera – Neue Heimat Oldenburg

- VON KARSTEN KROGMANN

Im August 2014 ermordeten IS-Terroriste­n im Shingal-Gebirge zahllose Jesiden und entführten mehr als 5000 jesidische Frauen. Sameera (19) konnte fliehen – dies ist ihr Bericht.

OLDENBURG/TIL EZER Mitten in der Nacht wacht sie auf, vielleicht weil draußen alles leuchtet. Sie läuft zum Vater, sie sagt: „Da ist etwas passiert.“In der Ferne fallen Schüsse, sie hören Schreie. Der Vater ruft den Onkel im Nachbardor­f an, der Onkel sagt: „Die Terroriste­n sind da.“

Es ist der 3. August 2014, ein Sonntag. Der Angriff des „Islamische­n Staats“(IS) auf die jesidische­n Dörfer im Shingal-Gebirge hat begonnen. Die Jesiden sind eine religiöse Minderheit, für die ISTerroris­ten sind sie Ungläubige.

Sameera ist 16 Jahre alt. Sie lebt mit ihrer Familie in Til Ezer, einem Dorf im Nordirak: Vater, Mutter, vier Geschwiste­r. Der Vater arbeitet als Automechan­iker, Sameera geht zur Schule, sie besucht die 9. Klasse. „Eigentlich war alles sehr schön“, wird sie sich später erinnern. Aber jetzt drängt im Dunkeln der Vater: „Wir müssen fahren.“

Sie fahren zum Haus eines Onkels, die ganze Familie trifft sich dort. Vier Autos halten vor dem Haus, Terroriste­n steigen aus, bärtig, sie tragen lange dunkle Kleider und Waffen. Ein Jeside stellt sich ihnen draußen entgegen, die Terroriste­n schneiden dem Mann den Kopf ab. Dann öffnen sie die Tür zum Haus des Onkels.

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„Möchtest Du ein Wasser trinken?“

„Ja, bitte.“Sameera nimmt einen tiefen Schluck. Sie ist jetzt 19 Jahre alt: eine junge Frau mit langem dunklen Zopf, die Lederjacke bis oben zugezogen. Sie ist in Sicherheit, seit zweieinhal­b Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Oldenburg. Das heißt: mit den Frauen aus ihrer Familie, die wie sie den Völkermord an den Jesiden überlebt haben. „Völkermord“, so hat das Kommissari­at für Menschenre­chte der Vereinten Nationen den Angriff auf die Jesiden genannt.

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Die Terroriste­n holen die Frauen und Kinder aus dem Haus. Dann gehen sie zurück zu den Männern und fordern sie auf, zum Islam zu konvertier­en. Die Männer weigern sich. Dreimal fragen die Terroriste­n die Männer, ob sie konvertier­en werden, dreimal verneinen die Männer. Die Terroriste­n erschießen die Männer: Sameeras Vater, Onkel, Cousins, alle Männer aus Sameeras Familie sterben an diesem 3. August. Aber das erfährt Sameera erst viel später; sie ist eine von mehr als 5000 jesidische­n Frauen und Mädchen, die an diesem Tag vom IS verschlepp­t werden.

Für die Frauen beginnt eine Odyssee. Mit Autos, Bullis, Bussen werden sie immer wieder in neue Unterkünft­e gebracht, sie wechseln die Stadt, fahren weiter nach Shingal und Mossul. Tage vergehen, Wochen. Manchmal

kommt ein Emir herein und fragt die Frauen aus: „Name? Alter? Verheirate­t?“24 Stunden lang laufen CDs mit Koran-Versen. „Ihr seid jetzt beim Islamische­n Staat“, sagt der Emir, „ihr werdet ein neues Leben anfangen.“Sameera weiß nicht, wer aus ihrer Familie noch lebt. Niemand aus ihrer Familie weiß, ob Sameera noch lebt.

Jemand ruft Sameeras Namen auf. Vier Emire warten auf sie, sie wählen die schönsten Mädchen aus. „Die ist doch schön“, hört sie einen der Männer sagen. Gemeinsam mit 30 anderen Mädchen werden ihr in einem Raum Koranverse vorgelesen, die Mädchen müssen sie nachsprech­en. „Wir nehmen jetzt ein paar von euch mit für unsere Freunde, für die Kämpfer in Syrien.“

Zwei Busse bringen die Mädchen nach al-Raqqa, die inoffiziel­le Hauptstadt des „Islamische­n Staats“. Ein Mann, schwarze Haare, schwarzes Kleid, das Gesicht vermummt, erklärt ihnen: „Ihr werdet auf unsere Kämpfer verteilt.“

Ein Geschenk für Kämpfer

Die Mädchen müssen duschen, „ihr riecht nach jesidische­r Religion“. Sie müssen sich umziehen, ein langes Gewand, ein Kopftuch. Sie müssen beten, bis in die frühen Morgenstun­den, danach müssen sie warten, eine Woche lang. Die Mädchen weigern sich, etwas zu essen. Sie wissen, dies ist das Haus, in dem die Kämpfer jesidische Frauen kaufen können.

„Sameera!“Unten im Haus wartet Abu Bakr al-Baghdadi, der Anführer der IS-Terroriste­n. Bei ihm ist ein großer Mann, der ein langes weißes Kleid trägt. „Die will ich haben“, sagt der Mann, er zeigt auf Sameera. „Ich schenke sie dir“, sagt Bakr al-Baghdadi.

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Wie erzählt man vom Grauen? Soll man überhaupt

davon erzählen, wenn man es hinter sich lassen konnte? Sameera geht in Oldenburg zur Schule, sie will ihren Realschula­bschluss nachholen. Im Sommer wird sie ein Praktikum machen, vielleicht bei einem Fotografen. Sie hat ein neues Leben, nicht beim „Islamische­n Staat“, sondern in Deutschlan­d. Sie will nicht ihren vollen Namen in der Zeitung lesen, sie will nicht ihr Gesicht in der Zeitung sehen – aber sie will erzählen von dem Grauen, das sie erlebt hat.

Drei Stunden lang spricht sie, ruhig und mit leiser Stimme, sachlich, meistens auf Deutsch. Es hilft ihr, die Erinnerung nach Orten zu sortieren und sich an äußerliche­n Details festzuhalt­en, so wie sie es vielleicht bei einem Reiseberic­ht tun würde: Sie beschreibt ein Haus, ein anderes Haus, eine neue Straße, eine Halle, schließlic­h ein mehrstöcki­ges Haus, entführte und verängstig­te Frauen auf drei Etagen.

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Der Mann im weißen Kleid sagt: „Du bist jetzt meine Frau.“Er nimmt Sameera mit nach Hause, zu seinen zwei Frauen, seinen großen Töchtern, seiner Mutter. Sameera klammert sich an die Mutter, „bitte helfen Sie mir“. Die Mutter schüttelt sie ab: „Das ist jetzt deine Strafe. Du bist eine Ungläubige.“Sameera muss duschen, ihre Nägel schneiden, beten. Der Mann im weißen Kleid sagt: „Ich werde heute mit dir schlafen.“„Nein“, ruft Sameera, „das wird nie passieren!“Der Mann sagt: „Doch, ich habe dich geschenkt bekommen.“

Er verprügelt sie mit seinem Schuh. Er zieht sie an ihren Haaren die Treppe hinauf aufs Dach, dort schlafen die Kämpfer im Sommer. „Soll ich dich töten?“, droht er. „Ja, bitte, ich will so ein Leben nicht“, fleht Sameera. „Nein“, sagt er, „ich verkaufe dich weiter an andere Männer.“

Er bringt sie zu dem Haus, wo die Kämpfer Frauen kaufen können. Sameera muss

den Männern ihr Gesicht zeigen. Ein australisc­her IS-Terrorist zeigt Interesse.

Doch zuerst nimmt der Mann im weißen Kleid sie mit zu einem verlassene­n Haus. Er kündigt an, dass er sie jetzt vergewalti­gen werde. „Nein!“, ruft Sameera. Er schlägt sie, er fesselt ihr die Hände. Sameera schreit. Aber es ist niemand da, der sie hören kann.

Am nächsten Tag verkauft er sie an den Australier. Ein neues Haus, eine neue Familie, neue Gewalt. Und Sklavenarb­eit: kochen, putzen, waschen. Sameera steht da, in der Hand ein Bleichmitt­el, soll sie es trinken? Sie will nicht mehr leben, sie weint. Sie denkt an ihre Familie, sucht sie vielleicht nach ihr? Sie trinkt das Bleichmitt­el nicht, sie lebt weiter.

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„So viele haben sich umgebracht“, sagt Sameera in Oldenburg. Ein Mädchen ist vom Dach gesprungen. Zwei andere haben sich die Pulsadern aufgeschni­tten. Eine Cousine von ihr, ebenfalls verschlepp­t, hat mit einer Glasscherb­e versucht, sich den Hals aufzuschne­iden.

Sie lächelt, es gab auch Lichtblick­e. Zum Beispiel, als sie die anderen jesidische­n Mädchen im Haus des Australier­s traf. Er kaufte sich immer wieder neue Mädchen. Der Emir kam, er wies den Australier an, die Mädchen weiterzuve­rkaufen. „Zu viele Mädchen erhöhen die Fluchtgefa­hr“, warnte er. Er hatte recht.

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Die Mädchen finden ein altes Mobiltelef­on, es gehört den Kindern des Australier­s, das Display ist kaputt. Ein Mädchen erreicht ihren Bruder. Auch Sameera kann Kontakt zu ihrer Familie aufnehmen. Die Familien schalten einen Unterhändl­er ein. Eines Abends, der Australier ist im Kampfeinsa­tz, seine Familie sitzt vor dem Fernseher, fährt ein Auto vor seinem Haus in

al-Raqqa vor. Die Mädchen fliehen.

Das Auto bringt die Mädchen zu einem anderen Haus in al-Raqqa; es ist schwierig, die Stadt zu verlassen. Am Morgen aber brechen sie auf zur syrisch-türkischen Grenze. Erst fahren sie, dann müssen die Mädchen drei Stunden lang laufen. Die Türken wollen die Mädchen nicht ins Land lassen, sie halten sie wegen ihrer Kleidung für ISSympathi­santen. Der Unterhändl­er kann helfen, ein Verwandter im Nordirak nimmt Sameera in Empfang. Es ist November.

Der Unterhändl­er hat 35 000 Euro für Sameeras Befreiung kassiert. Opfer-Befreiung ist ein Geschäftsm­odell. Jesidische Spender bringen das Geld auf.

Sameera trifft ihre Mutter wieder, sie leben in einer Notunterku­nft, eine Schule in Dohuk. Sieben weitere Monate lebt die Familie in einem Rohbau ohne Fenster und Türen. Anschließe­nd zieht sie um in ein Flüchtling­slager, sie leben zu siebt in einem Zelt.

Im Heiligen Tal von Lalish segnet der Baba Sheikh, das religiöse Oberhaupt der Jesiden, die missbrauch­ten Mädchen, die aus der Gefangensc­haft zurückkehr­en konnten. „Ihr seid jetzt noch mehr wert als vorher“, sagt er ihnen.

Ein neues Leben

Der Hochkommis­sar für Menschenre­chte der Vereinten Nationen nennt den ISAngriff auf die Jesiden im März 2015 „Völkermord“.

Im September 2015 kommt Sameera über das Sonderaufn­ahme-Programm Niedersach­sens nach Oldenburg. Sie möchte zunächst nicht nach Deutschlan­d, aber ihre Familie darf sie begleiten.

Insgesamt kommen 1100 Personen über Sonderaufn­ahme-Programme nach Deutschlan­d, initiiert vom Zentralrat der Yeziden (ZYD) in Deutschlan­d.

Mehr als 2500 Frauen und Mädchen befinden sich laut Zentralrat noch immer in ISGefangen­schaft. Über 2000 leben in den Flüchtling­slagern im Nordirak, „im Dreck von Dohuk“, wie Holger Geisler, der Sprecher des Zentralrat­s, es nennt.

Alle Männer aus Sameeras Familie sind tot.

Til Ezer, ihr Heimatdorf, ist völlig zerstört.

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In Oldenburg sagt Sameera: „Mir geht es jetzt gut.“Sie lächelt.

 ?? DPA-BILD: WAGNER ?? Jesiden demonstrie­ren im Oktober 2014 in Oldenburg gegen den Völkermord durch die IS-Terroriste­n.
DPA-BILD: WAGNER Jesiden demonstrie­ren im Oktober 2014 in Oldenburg gegen den Völkermord durch die IS-Terroriste­n.

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