Stillstand in Europa
Professor Alfred Grosser (93) ist deutschfranzösischer Publizist, Soziologe und Politikwissenschaftler.
FRAGE: Zein Durchbruch in Richtung EU-Reform in Sicht. Auch beim Besuch von Emmanuel Macron in Berlin sind keine Fortschritte erkennbar. Scheitert Frankreichs Präsident mit seiner ehrgeizigen Agenda am Widerstand der Kanzlerin?
GROSSER: Es wird keine großen Fortschritte in Richtung Reformen geben. Die Bundeskanzlerin will nicht so weit gehen wie Präsident Macron. Frau Merkel ist nicht bereit für einen europäischen Finanzminister und einen gemeinsamen Euro-Haushalt. [...] Es wird aber keinen Fortschritt in Europa geben, wenn Deutschland nicht bereit dazu sein wird, seinen wirtschaftlichen Wohlstand zu teilen. [...] Die von Macron vorgeschlagenen Reformen würden Deutschland einiges kosten, aber das kann die Bundesrepublik leisten und verkraften. FRAGE: Vor allem CDU und CSU lehnen eine Vergemeinschaftung der finanziellen Risiken und Schulden ab… GROSSER: Wenn jeder nur Politik auf seine Rechnung macht, wird es am Ende noch teurer. Ein Scheitern Europas käme auch Deutschland teuer zu stehen. Einer der Vorschläge von Macron ist, dass die Währungspartner gemeinsam investieren. Aber die deutsche Kanzlerin bremst und blockiert die Pläne. FRAGE: Die Kanzlerin setzt auf eine gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik und will auch bei der Asylpolitik mehr Gemeinsamkeit in Europa. Was spricht dagegen? GROSSER: Das eine ist so wichtig wie das andere. Auch eine gemeinsame Verteidigungspolitik ist sehr schwierig durchzusetzen. Warum soll man nicht beides zugleich machen? Europa braucht jetzt schnelle und umfassende Reformen. Natürlich ist Europa in einer schwierigen Lage. Aber Europa wird nicht zerstört werden. Wir werden da stehenbleiben, wo wir jetzt sind. [...] Das ist keine Katastrophe, aber ein bedauerlicher Stillstand. FRAGE: Das heißt/ auch wenn es keine große Reform gibt/ wird Europa nicht auseinanderdriften? GROSSER: Macron wird mit seinem Vorstoß scheitern. Deutschland wird nicht zu überreden sein, diesen Weg mitzugehen. Das wird aber nichts daran ändern, dass die Atmosphäre freundlich bleiben wird. Das genügt aber nicht, um dringend notwendige Fortschritte zu machen. Die Kanzlerin lässt Macron hier allein. Das war vorauszusehen.