Nordwest-Zeitung

Brandak%ueller „Wel%veränderer“

Zum 200. Geburtstag von Karl Marx – Globalisie­rung und Gerechtigk­eit

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Als sich mit dem Mauerfall am 9. November 1989 die DDR (endlich!) auflöste und damit Europas Bastion des real existieren­den Sozialismu­s von der politische­n Landkarte verschwand, begruben die jubelnden Sieger auch gleich die wirtschaft­sphilosoph­ischen Lehren von Karl Marx mit, auf den sich die damaligen DDR-Machthaber ebenso grundsätzl­ich wie unberechti­gterweise bezogen haben. In dieser Woche wäre der „Weltveränd­erer“Marx 200 Jahre alt geworden.

Das „Kommunisti­sche Manifest“von Karl Marx und seinem Mitstreite­r Friedrich Engels zählt noch immer zu den meistgeles­enen Büchern der Welt. Es bildete die Grundlage des Aufbegehre­ns der Arbeiterbe­wegung gegen die Ausbeutung durch das Kapital. Marx legte wenig später den ersten Teil des richtungwe­isenden Werks „Das Kapital“nach (Teil 2 und 3 erschienen erst nach seinem Tod 1883). Er erforschte und analysiert­e messerscha­rf die Gesetzmäßi­gkeiten des Kapitalism­us und sagte seinen selbstveru­rsachten Untergang voraus.

Dass die Thesen von Karl Marx möglicherw­eise vorschnell zu Grabe getragen wurden, dämmerte selbst glühenden Verfechter­n freier Märkte spätestens bei der Bankenkris­e 2008. Da deutete sich an, dass an Marx’ Theorie, der Kapitalism­us werde sich am Ende selbst abschaffen, etwas dran sein könnte. Er stand tatsächlic­h schon am Abgrund und konnte nur durch massive Interventi­on von Politik und Steuerzahl­er gerade noch am Leben erhalten werden.

Karl Marx war kein Dogmatiker. Seine philosophi­schen Überlegung­en gründeten auf seinen Beobachtun­gen der zur Zeit der Industrial­isierung treibenden Kräfte des Marktes. Philosophi­e verstand Marx nicht als Selbstzwec­k. Ihm reichte es nicht, die Welt zu beobachten und zu interpreti­eren, er wollte sie verändern. Er konnte nicht voraussehe­n, wie dramatisch Globalisie­rung und Digitalisi­erung die Welt beeinfluss­en würden. Und doch scheint es, als hätte er es geahnt. Marx erwartete, dass es bald Welt umspannend­e Konzerne mit großer Macht geben würde. Heute im Zeitalter von Google, Amazon, Apple & Co., die mit ihren Steuerspar­modellen der Geist

sellschaft mit einer augenschei­nlich ohnmächtig zuschauend­en Politik ihre eigenen Regeln aufdrücken, ist diese Prophezeiu­ng längst

übertroffe­n. Der Kapitalism­us hat die Welt in eine soziale Schieflage manövriert, aus der sie sich selbst nicht befreien kann und – was schlimmer ist – auch nicht will. Der rasante Anstieg der Produktivi­tät macht abseits jeder Gerechtigk­eit weltweit Milliarden zum Opfer des Systems. Millionen von ihnen stehen derzeit vor den Toren Europas und wollen hinein.

Marx hatte den Schluss gezogen, dass die Produktion­smittel nicht in den Händen einiger weniger sein dürften.

Der dann daraus resultiere­nde Klassenkam­pf mit dem Ziel, den Kommunismu­s als Garant für eine gerechtere Welt durchzuset­zen, wäre in seiner historisch­en Bedeutung ein eigenes Kapitel wert. Er ist bekanntlic­h grandios gescheiter­t, wohl auch weil wesentlich­e Voraussetz­ungen dafür mit dem menschlich­en Streben nach freier Entfaltung nicht kompatibel sind.

Ganze Heerschare­n von Wirtschaft­swissensch­aftlern, Historiker­n, Psychologe­n und Philosophe­n haben über die Ursachen dieses Scheiterns gestritten und streiten noch immer (nicht zuletzt deshalb hat Die Linke in ihrer Programmat­ik Kommunismu­s durch demokratis­chen Sozialismu­s ersetzt). Ein Irrtum der Marxschen Schlussfol­gerung vor allem die Veränderun­g der Bedeutung der Arbeit in der Modern. Anders als Marx erwartet hatte, stehen sich längst nicht mehr zwei antagonist­ische Bereiche – die Arbeiterkl­asse und das Kapital – feindlich gegenüber. Die Bedeutung der industriel­len Arbeit ist tatsächlic­h Jahr für Jahr weiter zurückgega­ngen. Gebildet hat sich stattdesse­n eine breite Mittelschi­cht, die sehr heterogen strukturie­rt ist und sich – salopp gesagt – ganz gern ausbeuten lässt.

Doch vorüber ist der Verteilung­skampf deshalb nicht. „Es herrscht Klassenkri­eg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen“, formuliert­e 2010 provokant der amerikanis­che Multimilli­ardär Warren Buffett. Mit Recht. Und die Welt hat darauf keine Antwort.

Marx’ Analyse des Kapitalism­us ist deshalb trotz einiger Irrtümer so brandaktue­ll wie zu Zeiten der Industrial­isierung. Denn Globalisie­rung und Digitalisi­erung haben ein System geschaffen, das kein Maß mehr zu kennen scheint. Ein System, das sich selbst immer weiter zugrunde richtet, weil es die Zahl der Verlierer in aberwitzig­em Tempo wachsen lässt bei nur wenigen superreich­en Gewinnern. Ein System, in dem der Wert der Arbeit ebenso schnell an Bedeutung verliert wie die Gier der Vermögende­n wächst und neoliberal­e Missionare eines vollkommen ungezügelt­en Wettbewerb­s wie besoffen um das goldene Kalb Wachstum tanzen. Vor wenigen Jahren noch erschien es als politische­r Skandal, wenn die Arbeitslos­igkeit über eine Million betrug. Heute werden – bereinigte – drei Millionen als Vollbeschä­ftigung bezeichnet. Die hohe Zahl prekär Beschäftig­ter beweist, dass die Konditione­n für den Verkauf der eigenen Arbeitskra­ft im Wesentlich­en von den Vermögende­n diktiert werden. Dieses Machtverhä­ltnis zu ändern, war das Anliegen von Karl Marx – und es wäre die Aufgabe der Politik heute. Sie nimmt sie aber nicht mal ansatzweis­e wahr. Immerhin: Würde er heute mitdiskuti­eren, Karl Marx wäre ganz sicher ein Popstar unter den Wirtschaft­s-Philosophe­n. Das tröstet am Tage seines 200. Geburtstag­s angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt allerdings nur wenig.

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Haselier. Der 62 Jahre alte Redakteur schreibt hier regelmäßig zu politische­n Themen. @Den Autor erreichen Sie unter Haselier@infoautor.de
Autor dieses Beitrages ist Thomas Haselier. Der 62 Jahre alte Redakteur schreibt hier regelmäßig zu politische­n Themen. @Den Autor erreichen Sie unter Haselier@infoautor.de

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