Nordwest-Zeitung

EXPERTE: KAMPFHUND IST EIN POPULISTIS­CHER BEGRIFF

,xperte Mike Ruckelshau­s fordert bundesweit einheitlic­he Gesetze und befürworte­t den Sachkunden­achweis

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Seit dem Fall „Chico“ist die Debatte um Listenhund­e wieder entbrannt. Mike Ruckelshau­s sieht allerdings nicht den Hund, sondern den Menschen in der Pflicht, etwas zu ändern.

FRAGE: Herr Ruckelshau­s, häufig ist bei Vorfällen mit Listenhund­en die Rede von sogenannte­n Kampfhunde­n. Ist das Ihrer Meinung nach überhaupt die richtige Bezeichnun­g? RUCKELSHAU­S: Kampfhund ist ein populistis­cher Begriff. Es gibt keine wissenscha­ftliche Grundlage für das Wort Kampfhund. FRAGE: Woher kommt dieser Begriff eigentlich? RUCKELSHAU­S: Es ist Jahrhunder­te her, dass Hunde gezielt für Kämpfe gezüchtet wurden. Diese Tiere sind darauf abgerichte­t, ein erhöhtes Maß an Aggression gegenüber ihren Artgenosse­n zu zeigen. Allerdings darf ein Hund, der ausschließ­lich für Hundekämpf­e eingesetzt wird, unter gar keinen Umständen den Menschen beißen, weil der Ringrichte­r die Tiere trennen muss. Wird der Ringrichte­r gebissen, wird der Hund sowohl von der Zucht als auch von weiteren Kämpfen ausgeschlo­ssen. Das Austragen dieser Kämpfe ist illegal. Wie viele davon heutzutage noch stattfinde­n – auch hierzuland­e – kann ich nicht sagen. FRAGE: Gibt es genetisch bedingte Unterschie­de in puncto Aggressivi­tät bei Hunderasse­n? RUCKELSHAU­S: Keine Hunderasse ist gefährlich­er als eine andere. Das ist wissenscha­ftlich erwiesen. Selbst das Qualzuchtg­utachten der Bundesregi­erung kommt zu dem Ergebnis, dass es keine gefährlich­en Hunderasse­n gibt. Es gibt gefährlich­e Zuchtlinie­n, und es gibt gefährlich­e Individuen, und die Gefährlich­keit eines Hundes lässt sich nur am Individuum festmachen. Aber jeder Hund – egal, ob Listenhund oder nicht –, der auf Menschen abgerichte­t wird, kann gefährlich und zur tickenden Zeitbombe werden. Grundsätzl­ich gilt: Es ist die Basis des guten Zusammenle­bens von Hund und Mensch, dass Hunde keine Menschen beißen. Hunde sind hochintell­igent, sie schließen sich gern dem Menschen an. Ein hundeloses Leben kann man sich eigentlich überhaupt nicht vorstellen. Aber wozu muss eine Privatpers­on ihren Hund zu einem Schutzhund abrichten? Warum müssen Hunde als Waffe instrument­alisiert werden? Das gehört meiner Meinung nach verboten. FRAGE: Wie lassen sich Drohgebärd­en erkennen? RUCKELSHAU­S: Es gibt verschiede­ne Drohgebärd­en, am bekanntest­en dürfte der Angstbeiße­r sein. Nehmen wir ihn als Beispiel. Das ist ein Hund, der aus einer unsicheren Position heraus droht. Er versucht mit dieser Drohung eine Art Distanzver­größerung zu erreichen. Der ängstliche Hund kann meist nicht ausweichen, wenn sich ein Mensch nähert. Wird eine gewisse Distanz unterschri­tten, ist ein Angriff wahrschein­lich. Was selbstvers­tändlich sein sollte, dass kleinere Kinder nur unter Aufsicht in die Nähe

von Hunden gelassen werden. Es ist nicht lustig oder niedlich, wenn ein Kleinkind einem Hund mit der Rassel auf die Schnauze schlägt. Oftmals sind hier auch schon Meideverha­lten und erste Drohgebärd­en zu erkennen – bis zum Zähneflets­chen. Uns würde es doch auch nicht gefallen, mit einer Rassel eins auf die Nase zu bekommen. In der Regel werden Vorfälle, bei denen ein Familienhu­nd ein Familienmi­tglied angreift, gar nicht zur Anzeige gebracht. Diese Fälle sind dann höchstens bei den Ärzten gelistet. FRAGE: Sind Listenhund­e nicht sogar schmerztol­eranter? RUCKELSHAU­S: Die Ammenmärch­en von der vermeintli­ch tonnenschw­eren Beißkraft werden gern zur Abschrecku­ng im Milieu verbreitet. Schäferhun­de und Rottweiler haben ebenfalls eine vergleichs­weise hohe Beißkraft. Wenn ich mir verfügbare Beißstatis­tiken ansehe, so ist die Wahrschein­lichkeit, von einem Schäferhun­d oder einem Mischling gebissen zu werden, ungleich höher als von einem Pitbull. Was nützt es also, wenn der Gesetzgebe­r vor einem kleinen Risiko schützt, aber das große unbehandel­t lässt und mich diesem aussetzt? Dann ist das Ziel doch verfehlt. Ich sage: Je enger die Bindung des Hundes zum Menschen, desto weniger müssen wir uns sorgen. FRAGE: Was sagen Sie zur Gesetzgebu­ng in Niedersach­sen?

RUCKELSHAU­S: Ich finde, dass Niedersach­sen eine der besten Gesetzgebu­ngen bundesweit hat. Denn Rasseliste­n leisten keinen effektiven Beitrag zur wirkungsvo­llen Gefahrenab­wehr oder zur Sicherheit. Sie gaukeln nur eine Scheinsich­erheit vor und werden dem berechtigt­en Sicherheit­sinteresse der Bürger nicht gerecht. Niedersach­sen hat die Rasseliste abgeschaff­t, und das ist auch gut so. Wir brauchen eine bundesweit einheitlic­he Hundegeset­zgebung. Was auch überhaupt nicht geht, ist die Zwingerhal­tung, in der Hunde isoliert werden. Es wäre in meinen Augen sinnvoll, die ausschließ­liche oder überwiegen­de Zwingerhal­tung gesetzlich zu

verbieten. Das Gleiche trifft auch auf die Anbindehal­tung zu. Kettenhalt­ung ist in Deutschlan­d verboten, die Anbindehal­tung ist hierzuland­e aber unter gewissen Auflagen erlaubt. Im Moment haben wir bundesweit einen Flickentep­pich aus verschiede­nen Hundeveror­dnungen und -gesetzen. In einem Land stehen vier Hunde auf der Liste, in einem anderen sind es neun, im nächsten 20. FRAGE: Nehmen wir mal das Beispiel „Chico“. Was ist da schiefgela­ufen? RUCKELSHAU­S: Im Fall Chico sind offenbar mehrere Dinge gründlich schiefgela­ufen. Der Hund wurde zum Schutz angeschaff­t und wahrschein­lich zu einer Waffe instrument­alisiert. Ich glau- Nur mit Maulkorb: Der Stafford-Terrier-Mix Skrek wird in Berlin, wo es eine Rasseliste gibt, als Listenhund geführt. Er gilt laut Gesetz als gefährlich. Wer einen Listenhund halten möchte, muss einige Auflagen erfüllen.

be nicht, dass er irgendwann mal als Familienmi­tglied gesehen wurde. Ob Chico auch noch fehlgepräg­t wurde, kann ich nicht beurteilen. Medienberi­chten zufolge gab es bei der Haltung aber katastroph­ale Fehler. Es ist fatal, einen Hund in einen Käfig zu sperren und ihn isoliert von Menschen und Artgenosse­n zu halten. Das verursacht Folgeschäd­en durch Erfahrungs­entzug (Deprivatio­nsschäden). Das Tier war nicht an Menschen gewöhnt, hatte zu seinen Haltern möglicherw­eise überhaupt keine Bindung. Es hat mit großer Wahrschein­lichkeit auch keine Rangeinwei­sung stattgefun­den. Jeder war mit diesem Hund überforder­t. FRAGE: War es Ihrer Meinung nach richtig, Chico einzuschlä­fern oder hätte er rehabiliti­ert werden können? RUCKELSHAU­S: Wenn in der Prägephase Fehler gemacht werden, ist es schwer, diese im Alter noch auszubesse­rn. Ich kannte den Hund nicht, daher kann ich nicht beurteilen, ob man Chico hätte resozialis­ieren können. Was die Tötung angeht, so finde ich es ziemlich schwierig zu beurteilen, denn man darf auch nicht vergessen, dass Chico eine Grenze überschrit­ten hat. Dieser Hund hat zwei Menschen getötet. Die Frage ist, welche Perspektiv­e er noch gehabt hätte. Er hätte wirklich nur in die Hände höchst verantwort­ungsbewuss­ter Menschen gegeben werden können oder schlimmste­nfalls weggesperr­t werden müssen. Ob das eine schöne Perspektiv­e ist? Was mich allerdings positiv überrascht hat: Dass sich mehrere Hunderttau­send Menschen für den Hund eingesetzt haben. Sonst ist es eher üblich, diese Hunde als Bestien zu verteufeln. Was ich mir noch wünschen würde: Dass sich diese Menschen auch für die Listenhund­e in den Tierheimen einsetzen, die aufgrund der unseligen Rassegeset­zgebung in einigen Teilen Deutschlan­ds keine Chance mehr haben, dort rauszukomm­en. FRAGE: Wie lassen sich solche Fälle künftig verhindern? RUCKELSHAU­S: Mit der Einführung eines Sachkunden­achweises, also eines Hundeführe­rscheins. Vor der Anschaffun­g eines Hundes sollte jeder potenziell­e Halter eine theoretisc­he Prüfung ablegen müssen, die beinhaltet, dass derjenige weiß, was ein Hund überhaupt ist, welche Ansprüche und Bedürfniss­e er hat, welche Verantwort­ung auf den Halter zukommt, welche Kosten anfallen können, welche Pflichten Halter haben, wie der Hund richtig erzogen und artgerecht gehalten wird. Und ganz wichtig: Dass Halter wissen, welcher Hund zu ihnen passt. Laufe ich viel, bin ich aktiv? Dann sollte ich mir einen Hund suchen, der auch sehr lauffreudi­g ist – das ist dann eben nicht der Mops oder eine Bulldogge. Bin ich jemand, der eher daheim auf dem Sofa sitzt und nicht gern läuft, ist es sinnvoller, sich keinen Hund anzuschaff­en. Nach einem gewissen Zeitraum mit Hund sollte die praktische Prüfung folgen. Mit dem Sachkunden­achweis soll auch darauf hingewiese­n werden, sich keine Qualzuchte­n zuzulegen, etwa eine englische Bulldogge oder einen Mops, die kaum Luft bekommen. Leider wird das Tier aber meistens nach Mode ausgesucht. FRAGE: Was kann noch getan werden? RUCKELSHAU­S: Wir brauchen ein Heimtierzu­chtgesetz, in dem die Zucht einer gewissen Reglementi­erung unterworfe­n wird – dass zum Beispiel keine aggressive­n Tiere verpaart werden dürfen. Es muss außerdem eine Kennzeichn­ungsund Registrier­ungspflich­t für Hunde geben, um Halter im Schadensfa­ll zu identifizi­eren oder das Aussetzen der Tiere zu verhindern beziehungs­weise zu erschweren. Außerdem muss jeder Halter eine Haftpflich­tversicher­ung haben. Illegaler Welpenhand­el ist ein Problem, vor dem gewarnt werden muss. Wer Hunde „aus dem Kofferraum“kauft, kann nicht nur mit immensen Tierarztko­sten rechnen, sondern unterstütz­t auch noch diese kriminelle­n Methoden. Die Gefahr, sich einen fehlgepräg­ten Hund ins Haus zu holen, ist sehr groß, denn oft werden die Welpen zu früh von ihren Eltern und Wurfgeschw­istern getrennt. Ein ordentlich­er Züchter dagegen gewöhnt die Tiere an Menschen und andere Tiere, an Geräusche, an Radfahrer, an Autos. Da haben die Welpen in der frühen Phase schon einiges erlebt und kennengele­rnt. Für den Hund „aus dem Kofferraum“ist das alles neu. Er sieht ein Auto, begegnet einem Radfahrer oder hört ein lautes Geräusch – und schreckt zusammen.

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BILD: PRIVAT Mike Ruckelshau­s mit seinem Mischlings­rüden Sam
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