„SPD und CDU: Lasst das Grundgesetz in Ruh“
Notstandsgesetze waren 1968 ein Kristallisationspunkt der Studenten-Proteste – Bis heute nie angewendet
Es war das bis dahin wohl am heftigsten umstrittene Gesetzesvorhaben der Bundesrepublik: Vor 50 Jahren, am 30. Mai 1968, verabschiedete der Bundestag gegen heftigen außerparlamentarischen Protest die Notstandsgesetze. Möglich wurde die Verabschiedung mit Zweidrittelmehrheit, da seit 1966 eine Große Koalition aus SPD und CDU regierte. Dem Grundgesetz ist seither eine Notstandsverfassung beigefügt, die in Krisensituationen den Handlungsspielraum des Staates erweitern, aber auch Grundrechte einschränken kann.
Als die Abgeordneten zur dritten Lesung und namentlichen Abstimmung im Bundestag zusammenkamen, glich das Bonner Parlamentsgebäude einer Festung. Einheiten der Bereitschaftspolizei waren mit Absperrgittern und Wasserwerfern aufgezogen. Zehntausende Menschen demonstrierten lautstark in der Stadt. „SPD und CDU: Lasst das Grundgesetz in Ruh“, stand auf Transparenten. Die Proteste blieben an dem Tag aber friedlich.
Der Inhalt der Notstandsgesetze: Bei einem inneren oder äußeren Notstand kann ein „Notparlament“als Ersatz für Bundestag und Bundesrat zusammentreten. Die Bundeswehr darf zur „Bekämpfung militärisch bewaffneter Aufständischer“– also auch gegen die eigene Bevölkerung – im Inneren eingesetzt werden. Von der Beschränkung der Grundrechte wäre vor allem das Post- und Fernmeldegeheimnis betroffen.
Vor allem Studenten, Intellektuelle und Gewerkschaften waren gegen das Gesetzesvorhaben. Die „außerparlamentarische Opposition“befürchtete, dass der Staat durch ein neues „Ermächtigungsgesetz“diktatorische Vollmachten erhielte. Schriftsteller wie Heinrich Böll, Pfarrer und Professoren warnten vor einer „Selbstausschaltung“der jungen westdeutschen Demokratie. Die Notstandsgesetze waren zu einem Kristallisationspunkt des Studenten-Protestes im Jahr 1968 geworden.
Das politische Klima war bereits Wochen vor der Bundestagssitzung aufgeheizt: Am 11. April war der Studentenanführer Rudi Dutschke auf offener Straße angeschossen worden. Wenige Tage zuvor hatten die späteren Mitgründer der „Rote Armee Fraktion“(RAF), Andreas Baader und Gudrun Ensslin, zusammen mit zwei weiteren Männern Brände in Frankfurter Kaufhäusern gelegt.
In zahlreichen Städten gab es Kundgebungen, Sit-Ins und Besetzungen gegen die Notstandsgesetze. Am 11. Mai zogen Zehntausende in einem Sternmarsch nach Bonn. In Münster blockierten am 29. Mai Hunderte Studenten ab fünf Uhr morgens das städtische Bus-Depot und legten für dreieinhalb Stunden den öffentlichen Nahverkehr lahm.
Im Rückblick erschienen viele Befürchtungen überzogen, sagt heute der Göttinger Staatsrechtler Alexander Thiele: „Allerdings waren sie auch nicht völlig aus der Luft gegriffen.“Schließlich sei nicht klar gewesen, „wie der Staat künftig mit den Notstandsregelungen umgeht, ob er sie aktiviert“.
Er tat es nicht, die Notstandsgesetze wurden bis heute nie angewendet – auch nicht, als die Attentate der RAF Bevölkerung und Politiker verunsicherten und als islamistische Terroristen später Anschläge verübten oder an-
drohten. Auch als fast 20 000 Bundeswehrsoldaten bei der Flutkatastrophe 2013 Sandsäcke stapelten und Dörfer evakuierten, geschah das nicht auf Grundlage der Notstandsgesetzgebung.
Nach der Verabschiedung der Gesetze flaute der Protest ab. „Wir haben eine Niederlage erlitten“, erklärte der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) noch am Abend. Nur in Frankfurt am Main gab es in den Folgetagen größere Auseinandersetzungen. Dort räumte die Polizei die besetzte Universität, im Gegenzug stürmten Studenten das Schauspielhaus.
In den vergangenen Jahrzehnten spielten die Notstandsgesetze in der öffentlichen Diskussion kaum noch eine Rolle. In der Rechtswissenschaft auch nicht, betont Experte Thiele: „Vor allem natürlich deshalb, weil eine Anwendung nie in Betracht kam.“Die Demokratie in der Bundesrepublik habe sich relativ schnell stabilisiert. „Wir können mit Konflikten in rechtsstaatlichen Bahnen umgehen, ohne dass wir irgendwelche Sondervollmachten brauchen.“
Eine Abschaffung der Notstandsgesetze hält der Staatsrechtler gleichwohl nicht für sinnvoll: „Wir sollten heute eher über eine Modernisierung nachdenken“, sagt er. „Und schauen, ob sie nicht neuen Bedrohungslagen anzupassen wären.“